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Zehn Jahre Forschung zum „Arabischen Frühling“ – eine Bilanz

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Seit 2018 schreiben Autor*innen des ipb in einer eigenen Rubrik des Forschungsjournals Soziale Bewegungen: “ipb beobachtet”. Die Rubrik schafft einen Ort für pointierte aktuelle Beobachtungen und Beiträge zu laufenden Forschungsdebatten und gibt dabei Einblick in die vielfältige Forschung unter dem Dach des ipb.

Zu den bisher erschienenen Beiträge, die alle auch auf unserem Blog zu lesen sind, geht es hier.

Der folgende Text von Dr. Jannis Grimm erschien unter dem Titel “Mobilisierungsdynamiken, Hegemoniekrisen und neue Protestakteure: Eine Dekade Protestforschung zu den Umbrüchen im Nahen Osten und Nordafrika‘” im Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 35, Heft 2.2022. Jannis Grimm ist ipb-Vorstandsmitglied und Nachwuchsgruppenleiter am INTERACT Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der Freie Universität Berlin. Kontakt: jannis.grimm@fu-berlin.de

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Geschichte erschließt sich naturgemäß erst im Rückblick. Bisweilen ist Protagonist*innen und Beobachter*innen jedoch bereits im Verlauf sich überschlagender Ereignisse klar, dass gerade Geschichte geschrieben wird. Im Kontext der Umbrüche im Nahen Osten und Nordafrika 2010/2011wurde die Besetzung des Tahrir-Platzes im Zentrum von Kairo am 25. Januar 2011 immer wieder als ein solcher Moment beschrieben. Das radikale Transformationspotenzial dieser Platzbesetzung zeigte sich – wie auch bei der Besetzung des Manama-Platzes in Bahrain 2011 oder des Syntagma-Platzes in Athen im gleichen Jahr, während des Euromaidan in Kiev2013/2014 und der Gezi-Park Proteste in Istanbul 2013, oder jüngst bei den Besetzungen des Tahrir-Platzes in Bagdad und des Märtyrerplatzes in Beirut – vor allem darin, dass sie eine neue Form des horizontalen „Politikmachens“ ermöglichte und ein Forum für die Entwicklung und Diskussion politischer Visionen schuf (McCurdy/Feigenbaum/Frenzel 2016; Schumann/Soudias 2013). Dies geschah in einem Kontext, in dem die politische Entscheidungsfindung über Jahrzehnte in den Händen einer kleinen autoritären Elite konzentriert war. Die Massenproteste im arabischen Raum, die hierzulande häufig mit dem stark normativ aufgeladenen Label des „Arabischen Frühlings“ umschrieben wurden(siehe hierzu Grimm 2015), markierten – zumindest vorläufig – den Anfang vom Ende dieses exklusiven Regierungsstils. Während der 18 Tage, die die Platzbesetzung in Kairo andauerte, ersetzte diese die verkrusteten staatlichen Institutionen als Verkörperung des Volkswillens und Quelle politischer Legitimierung.

Rückblickend können die Platzbesetzungen als erste Episode eines bis heute andauernden historischen Umbruchs gewertet werden. Der „Arabische Frühling“ hat durch die Transformationsbewegungen und Konterrevolutionen, die er in Bewegung setzte, aber auch durch die teils gewaltsamen ethnischen, sozialen und konfessionellen Spannungen, die er aufbrechen lies(siehe hierzu Valbjørn 2021), die Gesellschaften Westasiens und Nordafrikas (WANA) tiefgreifend verändert. Wie bereits die Umbrüche in Lateinamerika, in Südostasien und in Osteuropa, hinterließ er aber auch Spuren in der Protest- und Bewegungsforschung. Wie andernorts beschrieben (Grimm 2018; Weipert-Fenner 2021), kam es vor allem in der Phase unmittelbar nach den Massenaufständen von 2011 zu einem geradezu explosionsartigen Zuwachs an Veröffentlichung zum „Arabischen Frühling“(für einen ersten Überblick siehe Grimm 2015; Weipert-Fenner 2014; Said 2017; Bank/Busse 2021; Josua/Edel 2021; Lynch 2021). Hatten Revolutions- und Demokratieforscher*innen die Region zuvor noch vordringlich unter dem Paradigma autoritärer Stabilität als Ausnahmefall vom globalen Demokratietrend diagnostiziert (siehe Valbjørn 2012; Valbjørn/Volpi 2014), so wurden die Proteste in der arabische Welt vor allem in der sozialen Bewegungsforschung zum Ausgangspunkt für transnationale Vergleiche (etwa mit erfolgreichen anti-autoritären Volksaufständen in anderen Teilen der Welt, oder mit Bewegungen mit ähnliche Handlungsrepertoires, wie der Occupy-Bewegung) sowie zur Projektionsfläche für Theorien zu zivilgesellschaftlicher Koalitionsbildung, präfigurativer Politik und horizontalen Mobilisierungsmustern.

Jenseits des (zu recht kritisierten) „akademischen Tourismus“ (Abaza 2011) von Forscher*innen mit unzureichenden Regional- oder Sprachkenntnissen in die Epizentren der arabischen Proteste, erschlossen sich auch langjährige Beobachter*innen zivilgesellschaftlicher Organisation unter autokratischen Bedingungen sowie Forscher*innen, die selbst an den Umbrüchen teilgenommen hatten, die Proteste als fruchtbares Forschungsfeld. Insbesondere drei Forschungsansätze bieten dabei innovative Anknüpfungspunkte für die Untersuchung von Protestbewegungen auch jenseits der Region (siehe Grimm 2022: 13-33): 1) relationale Ansätze, die die Interaktionen zwischen verschiedenen Akteuren während der Aufstände 2011 in den Vordergrund stellten, 2) kritische Ansätze, die die strukturalistische Tendenz früherer Analysen des „Arabischen Frühlings“ vermieden und sich stattdessen auf die bedeutungsgebenden Prozesse konzentrierten, welche die Proteste überhaupt erst ermöglichten und 3) diskurszentrierte Ansätze, die nachzeichneten, wie höchst emotionale politische Subjektivierungsprozesse die Entstehung schlagkräftiger revolutionärer Allianzen begünstigten.

Dieser Artikel diskutiert diese drei Literaturstränge, ihre Überschneidungen und wie sie die Erforschung sozialer Bewegungen und revolutionärer Dynamiken auch über die WANA-Region hinaus informieren können. In ihrer Kombination, so das Fazit, leisten die in der Erforschung des „Arabischen Frühlings“weiterentwickelten Ansätze vor allem im Hinblick auf die Theoretisierung verschiedener Austragungsorte gesellschaftlicher Konflikte und deren wechselseitige Beziehungen innovative konzeptionelle Beiträge. Die mittlerweile umfangreiche Forschung zum „Arabischen Frühling“unterstreicht dabei insbesondere, wie das Wechselspiel zwischen der „Politik der Straße“und medial vermittelten hegemonialen Deutungskämpfen richtungsweisende Leitplanken für den Verlauf sozialer Transformationsprozesse im Zuge von Massenmobilisierungen bilden.

Relationale Ansätze: Situative Dynamik statt struktureller Disposition

Die wohl bemerkenswerteste Entwicklung in der jüngeren Literatur zu den arabischen Volksaufständen ist zweifelsohne die Dominanz relationaler und interaktionsfokussierter Analyseansätze–eine unmittelbare Konsequenz des auch für erfahrene Beobachter*innen der Region größtenteils überraschenden Ausbruchs der Volksaufstände 2010/2011. Erst in Tunesien, dann in Ägypten, Bahrein, Syrien und Libyen – Jahre später im Sudan, Libanon, in Algerien und im Irak– machten die wechselhaften und von einem hohen Maß an Spontanität geprägten Mobilisierungsdynamiken die analytischen Grenzen von unidirektionale oder überwiegend strukturalistischen Perspektiven auf Protest deutlich. Konzentrierten sich frühe Publikationen zum „Arabischen Frühling“ noch überwiegend auf die wirtschaftlichen, sozialen oder technologischen Bedingungen und damit auf das makrostrukturelle Umfeld der Proteste, so verschob sich dieser Fokus über die Zeit weg von „vagen Strukturen auf der Makroebene, die vom Beobachter zwar vorausgesetzt werden, aber ansonsten unsichtbar sind“ (Jasper/Volpi 2018: 17)  hin zu medial übersetzten, konkret beobachtbaren, und offensichtlich für die Entscheidungsprozesse der Protestprotagonist*innen einflussreichen Phänomenen auf der Mikroebene. Frédéric Volpi (2014: 154) beklagte zwar noch 2014 die Fülle repetitiver Abhandlungen zum „Arabischen Frühling“, die sich in der ausführlichen Beschreibung der sozio-ökonomischen und politischen Missstände in der Region erschöpften. Doch spätestens ab der Mitte der 2010er Jahre stellte die Protestforschung zunehmend die situierten Prozesse der gegenseitigen Orientierung zwischen verschiedenen Akteuren als zentrale Erklärungsvariablen für die Mobilisierungsprozesse in den Mittelpunkt. Diese Fokusverschiebung wurde auch methodisch durch den Einbezug und die Weiterentwicklung klassischer Instrumentarien der Bewegungsforschung flankiert(hierzu mehr bei Weipert-Fenner 2021) – allen voran der Verfahren zur Datenerhebung für Protestevent-Kataloge(Grimm 2022; Ketchley 2017; Majed 2021; Weipert-Fenner/Wolff 2020; Kadivar/Ketchley 2018) sowie der Ansätze zur Analyse von Protestperformances und Organisationsnetzwerken in den sozialen Medien (etwa Siegel 2019; Barrie 2021; Ketchley 2014).

In ihrem Zusammenspiel entkräfteten diese Ansätze überzeugend den Mythos vom „Arabischen Frühling“ als einem „strukturell überdeterminierten Drama“, ähnlich dem von Protesten begleiteten Zusammenbruch der Sowjetunion (Beissinger 2009: 335). Sie beschreiben die Kaskade von Massenprotesten vielmehr als eine dynamischen Sequenz konfrontativer Episoden, innerhalb derer einzelne transformative Ereignisse auf unvorhergesehene Weise den Möglichkeitshorizont für nachfolgendes politisches Handeln veränderte (siehe hierzu Alimi/Meyer 2011; Della Porta 2014). Die Revolutionsbewegungen reagierten weniger auf eine Öffnung der Gelegenheitsstruktur für Protest, als dass sie diese im Zuge höchst volatiler Mobilisierungsmomente aufbrachen und durch immer neue Akte der Mobilisierung erweiterten. Diese proaktive Komponente war maßgeblich dafür mitverantwortlich, dass sowohl die Bewegungs- als auch die Nahostforschung von den Massenprotesten kalt erwischt wurden. Die strukturelle Krise der arabischen Regime war in der Forschung zwar hinlänglich bekannt. Dort hatte sie vor allem Diskussionen über den „arabische Exzeptionalismus“ vom globalen Demokratisierungstrend genährt (siehe hierzu Valbjørn/Volpi 2014; Grimm 2015). Die Akteure, die sich im Zuge der Proteste2010/2011 als politische Bewegung neu konstituierten waren dagegen nur bei wenigen Forschenden als potenzielle revolutionäre Subjekte auf dem Radar.

Während des „Arabischen Frühlings“ waren es aber jene Akteure, die in ihrer hochdynamischen Mikrointeraktion mit Sicherheitskräften, alten und neuen Aktivist*innengruppen, sowie der breiten Öffentlichkeit selbst neue Gelegenheitsfenster für soziale Veränderungen schufen (Harders/König 2013; Shokr 2015; Volpi/Clark 2019; Ketchley 2014; Davenport/Moore 2012). Insbesondere bei der am stärksten medial begleiteten (und erforschten)Revolution in Ägypten lassen sich die Eskalation kollektiver Aktionen als auch die Radikalisierung von Protestforderungen und Handlungsrepertoires auf kurzfristige Interaktionseffekte zurückführen (siehe El Chazli 2018: 150). Dies zeigten schon die ersten Tage des Aufstandes: Als die Behörden am 25. Januar 2011 eine beispiellose Protestbeteiligung feststellten, bei der die Zahl der Demonstrierenden erstmals die der Sicherheitskräfte überstieg, versuchten sie die Mobilisierungsstrukturen der Bewegung durch Abschalten des Internets zu durchbrechen. Doch lösten sie damit unbeabsichtigt nur weitere Demonstrationen aus, die diesmal wiederum von Menschen getragen wurden, die sich bis dato noch gar nicht an den Protesten beteiligt hatten(Hassanpour 2011). Auch die folgende 18-tägigeBesetzung des Tahrir-Platzes, die von Barrikaden­kämpfen und verschiedenen Repressionsversuchen geprägt war, verdeutlichte die Notwendigkeit, die Interaktionsmuster zwischen den wettstreitenden politischen Akteuren auf der Mikroebene und ihre kumulierten Folgen für Transformationsprozesse auf der Makroebene unter die Lupe zu nehmen. Es überrascht daher kaum, dass im Zuge des wachsenden Forschungsinteresses zu den Umbrüchen insbesondere relationale und interaktionistische Ansätze zunehmend Anklang fanden (siehe etwa Berriane/Duboc 2019; Bishara 2015; Grimm 2019; Grimm/Harders 2018; Volpi/Clark 2019; Volpi/Jasper 2018).

Die Korrelation dieses Paradigmenwechsel in der Nahostforschung mit einer in weiten Teilen der Bewegungsforschung zu beobachtenden Abkehr vom vormals dominanten Konzept der politischen Opportunitätsstrukturen ist indes kein Zufall. Sie steht vielmehr in direktem zeitlichem Zusammenhang mit einer Reihe von einschlägigen akteurszentrierten Publikationen im Forschungsfeld, welche die Situiertheit und Kontingenz sozialen Wandels und das Zusammenspiel von strategisch handelnden players (Spielern/Akteuren) und sozial konstruierten arenas(Arenen) als Voraussetzung für die Realisierung von politischen Gelegenheiten betonten (siehe etwa Goodwin/Jasper 2012; Jasper/Duyvendak 2015; Duyvendak/Jasper 2015; McGarry et al. 2016). Das neue analytische Vokabular dieser Publikationen griffen Nahostwissenschaftler*innen dankbar auf, um das beobachtete komplexe strategisch-interaktive Bild von Protestpolitik in ihrer Region zu beschreiben und dabei der verzeichneten hohen Dynamik „voller Aktionen und Reaktionen, Erwartungen und Berechnungen und auch Emotionen“ (Jasper 2015: 20) Rechnung zu tragen. Der „Arabische Frühling“ wurde dadurch gewissermaßen zum ersten Testgelände für den players/arenas-Ansatz, wie auch ein für die Nahostforschung wegweisender Sammelband voller Anwendungsbeispiele zeigt (siehe Volpi/Jasper 2018).

Wie Volpi und Clark (2019) feststellen, erlaubten die Orientierung hin zu den Mikrointeraktionen zwischen den Protagonist*innen des Mobilisierungsgeschehens auch die Überwindung des einschränkenden binären Fokus auf den outcome der Umbrüche – und damit vorschneller Diagnosen von Erfolg oder Scheitern eines Revolutionsprozesses, dessen sozio-kulturelle Implikationen sich wohl erst mit zeitlicher Distanz abschließend bewerten lassen. Stattdessen ermöglichte sie die Entwicklung neuer Erklärungsansätze für Phänomene auf der Meso-Ebene, etwa Allianzbildungsprozesse zwischen unterschiedlichen Generationen und vormaligen politischen Antagonisten (Grimm 2019; Beissinger/Jamal/Mazur 2015; Berriane/Duboc 2019; Hassabo 2019) oder die ambivalenten Effekte staatlicher Repression. Interaktions-fokussierte Studien zu den Versuchen arabischer Autokraten, Dissens zu unterbinden, zeigten etwa eindringlich das backlash-Risiko von Repressionsmaßnahmen auf (siehe Grimm/Harders 2018; Holmes 2012; Shokr 2015). Sie beleuchteten aber auch die affektiven situativen Dynamiken hinter solchen gescheiterten Unterdrückungsversuchen (Ayata/Harders 2018; Ketchley 2014)– wie auch hinter Radikalisierungsprozessen infolge von Repression (Nassauer 2016, 2019). Gleichzeitig trugen sie zur Dekonstruktion repressiver Staaten als einheitlichen Akteuren bei und zeigten auf, wie verschiedene Institutionen der Exekutive in revolutionären Settings selbst zu Arenen des Konfliktaustrags wurden. Diese Prozesse verwischten bisweilen sogar die Grenzen zwischen sozialen Bewegungen und staatlichen Akteuren, etwa in den Fällen, in denen sich Regimeakteure der Mobilisierung des Volkes anschlossen oder zu Rebellen überliefen (Grewal 2018; Holmes/Koehler 2020; Nepstad 2013). Insbesondere mit Blick auf die Tahrir-Revolution in Ägypten beleuchten zahllose Artikel die Dynamiken, welche die Armee dazu veranlassten, die Seite zu wechseln und damit die Voraussetzungen für den Sturz Mubaraks schafften. Sie legen nahe, dass vor allem die wahrgenommene Verletzung moralischer Kodizes, z.B. der Würde des Volkes, zu Brüchen innerhalb der Regimekoalition und zu massiver Gegenmobilisierung führten (Khosrokhavar 2018). Dies bestätigt nicht zuletzt auch frühere Forschungen aus anderen geografischen Kontexten, wonach (unabhängig von Regimetyp oder struktureller Disposition) jedwedes staatliches Handeln Opposition hervorrufen kann, wenn es hinsichtlich der gesellschaftlichen Erwartungen an behördliches Handeln als Grenzverletzung angesehen wird (siehe etwa Almeida 2003; Hess/Martin 2006).

Kritische Ansätze: Perzeptionen und Gegenhegemonien

Daneben belebten die arabischen Umbrüche auch kritische hegemonie- und diskurstheoretischen Forschungstraditionen der Revolutionsforschung neu, die in den vorigen Jahren graduell in den Schatten der dominierenden contentious politics und framing-Ansätze getreten waren. Bereits die Auslöser des „Arabischen Frühlings“, die Selbstverbrennung des verzweifelten Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi in Tunesien und die Folter und Ermordung von Khaled Said in ägyptischem Polizeigewahrsam, unterstrichen die Bedeutung von gegenhegemonialen Interpretationsprozessen für den Verlauf der Revolutionen. So waren beide „transformative Ereignisse“(Schwedler 2016) im Prinzip nicht außergewöhnlich (El Chazli 2018: 140 ff.). Im Gegenteil: Bereits vor Bouazizi hatten sich mehrere verarmte Tunesier infolge steigender Lebenshaltungskosten und Existenzängste das Leben genommen. Und in Mubaraks Ägypten waren Folter und Polizeibrutalität gängiger Alltag.Das Besondere an beiden Todesfällen war vielmehr, dass politische Akteure das Ereignis dazu nutzten, eine klare Grenzziehung zwischen Freund und Feind, zwischen Volk und Regime vorzunehmen. Über die unmittelbar erlittene Erfahrung hinaus wurde erst die (Re-)Konstruktion der Ereignisse, insbesondere in den sozialen Medien (Lynch 2014), für die anschließende Mobilisierung bedeutsam(Della Porta 2014: 177).Sie stieß die diskursiven und emotionalen politischen Subjektivierungsprozesse an, die in der Forderung nach karamainsaniyya – Menschenwürde – sowie dem Slogan al-shabyurid… (das Volk will, gefolgt von diversen sozio-politischeForderungen) ihren symptomatischen Ausdruck fanden und die Massenmobilisierungen länderübergreifenden begleiteten. Farhad Khosrokhavar (2018) beschreibt diesen transformativen Effekt besonders treffend: „Was als traurige Tatsache akzeptiert wurde, wird durch die gesteigerte, geteilte und verstärkte Empörung unerträglich“ (S. 160).

Darüber hinaus zeigt der „Arabische Frühling“ auch die transnationale Diffusion solcher Subjektivierungsprozesse auf. So wurden Said und Bouazizi nicht nur in Ägypten und Tunesien zu Ikonen. Ihre Bilder und die dazugehörigen Erzählungen fanden vielmehr Eingang in den kulturellen Bestand von Bewegungen auch jenseits der Region. Die neue Kultur des Widerstands, die sich während der Aufstände in Tunesien und Ägypten entwickelte, knüpfte leicht an ein weltweit geteiltes Verlangen nach direkter politischer Teilhabe an und schürte es durch ihre Erfolgsgeschichte (siehe El-Sharnouby 2018). Selbst lange nachdem die Demonstrierenden die besetzten Plätze in den arabischen Hauptstädten geräumt hatten, wirkte die „Aura“ von Tahrir für Aktivist*innen andere Länder fort, etwa in Gezi-Park, auf dem Euromaidan oder in der Occupy-Bewegung (Della Porta/Atak 2017; Kerton 2012; Feigenbaum/Frenzel/McCurdy 2013) und beeinflusste die Ausgestaltung von Protest in ihrer räumlichen Gegenwart.

Der „Arabische Frühling“fand insofern parallel zur politischen Arena der Straßenproteste auch in einem „imaginativen Terrain“(Chalcraft 2014: 179) statt. Dessen Analyse bestimmte insbesondere bei Gramsci-inspirierten Protestforscher*innen bald das Erkenntnisinteresse (etwa Chalcraft 2014, 2016a; De Smet2016; Gherib 2021; Grimm 2022; Gervasio/Manduchi 2021; Roccu 2013). In ihrer Lesart repräsentierten die Auslöseereignisse der Aufstände in den jeweiligen Ländern der Region durch die Unterminierung der bis dato als gesetzt geltenden Herrschaftsnarrative einen Epochenbruch, der es den oppositionellen Kräften endlich ermöglichte, in den Vordergrund zu treten, ihre gegenhegemonialen Narrative öffentlich zu artikulieren und damit den Status Quo in Frage zu stellen. Derartige Erklärungsansätze betonen zwar einerseits, wie die Verhaftung und Folter von 15 Schulkindern, die oppositionelle Slogans an Wände gemalt hatten, durch syrische Sicherheitskräfte oder die versuchte Räumung des ägyptischen Tahrir-Platzes durch angeheuerten Schlägertrupps auf Kamelen (Holmes 2012), als transformative Trigger-Ereignisse zu verstehen sind, da sie die hegemoniale Krise der autoritären Herrschaftsstrukturen in der Region versinnbildlichten. Andererseits weisen sie aber auch auf die längerfristigen Erosionsprozesse hin, welche in den Jahren vor den Volksaufständen den fruchtbaren Nährboden für soziale Mobilisierung geschaffen hatten.

So entfaltete sich der „Arabische Frühling“ in weitgehend statischen und streng kontrollierten politischen Arenen, die in der gesamten Region von augenscheinlich stabilen autoritären hegemonialen Blöcken dominiert wurden. Diesen gehörte neben dem Präsidenten zumeist die Armee (oder zumindest ein signifikanter Arm der Streitkräfte), der Inlandsgeheimdienst sowie Mitglieder der Wirtschaftselite an(zu landesspezifischen Unterschieden siehe Asseburg/Wimmen 2017). Über Jahrzehnte wurden diese Blöcke, vor allem in Ägypten, Tunesien und Marokko, durch einen hegemonialen Modernisierungsdiskurs aufrechterhalten, der ihre politische Vormachtstellung regelrecht naturalisierte (siehe Pratt 2012). Nach dem Niedergang der großen Ideologien (Antikolonialismus, Panarabismus, Sozialismus), auf die sich die Regime zurLegitimation ihrer autoritären Herrschaft gestützt hatten, begründete dieser Diskurs eine Art„informellen Gesellschaftsvertrag“(Harders 2009: 148). Dieser versprach arabischen Bürger*innen ein Maß an sozialer Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung und forderte im Gegenzug stillschweigende Akzeptanz des autokratischen Status Quo und den Verzicht auf politische Repräsentation.Die Legitimität dieses impliziten Tauschhandels von Wohlstand für Freiheit erodierte jedoch zusehends in den Jahren vor 2010/11 (Harders 2015), infolge demografischer Entwicklungen, wachsender sozialer Ungleichheit, und dem im Zuge der digitalen Transformation einfacheren Zugang zu unzensierten Informationen(siehe auch Chalcraft 2014, 2016b; Joya 2011).

Neoliberale Wirtschaftsreformen in Tunesien und Ägypten in den 80er und 90er Jahren gossen zusätzlich Öl ins Feuer.So argumentiert Roberto Roccu(2013), dass diese zwar eine strukturell  zwingende Notwendigkeit zur Einlösung des Wohlstandsversprechens gewesen sein mögen. Allerdings gingen sie zu Lasten des sozialen Zusammenhalts und der Integrität des herrschenden hegemonialen Blocks (siehe auch Achcar 2013; Hanieh 2013). Die Reformen entfremdeten breite Schichten der arabischen Bevölkerungen von der herrschenden Klasse und untergruben dabei den impliziten hegemonialen Herrschaftskonsens. Wie De Smet und andere (Teti/Gervasio 2011; De Smet 2016)betonen, gelang es den traditionellen Herrschaftsblöcken nicht, die erodierenden Effekte dieser Wirtschaftspolitik durch neue politische oder ideologische Legitimationsquellen zu kompensieren. Gleichzeitig verhinderten eine streng kontrollierte politische Öffentlichkeit die Entwicklung überzeugender Visionen für das Gemeinwesen, welche die Regime zur Restauration ihres Herrschaftsanspruchs hätten kooptieren können. Eine gegenhegemoniale Kultur entstand stattdessen in Form verschiedener alternativer Basisprojekte. Deren Aktivitäten blieben aber aufgrund eingeschränkter Meinungsfreiheit in erster Linie auf die Privatsphäre und einige wenige geduldete zivilgesellschaftliche Handlungsfelder beschränkt.Dies begrenzte indes auch ihre gesellschaftliche Resonanz und damit ihr Potenzial, die hegemoniale Gesellschaftsordnung in Frage zu stellen.

Mittelfristig waren die arabischen Repressionsapparate somit effektiv darin, eine öffentliche Thematisierung der wachsenden Kluft zwischen den arabischen Gesellschaften und ihrem verknöcherten Regime zu verhindern. Langfristig jedoch verschärfte die offensichtliche Dissonanz zwischen dem hegemonialen Überbau, der die Herrschaft einer elitären Clique legitimieren sollte und den faktischen Verhältnissen der arabischen Gesellschaften nur die latente Legitimationskrise und legte damit den Grundstein für die explosionsartige Revolte der städtischen Mittelklasse (Herrera/Mirshak 2018). Am Vorabend der Revolution waren die arabischen Regime, wie Chalcraft betont, faktisch ein Fall von „Dominanz ohne Hegemonie“ (Chalcraft 2014: 165). In dieser Lesart brachte der Anblick von Demonstrant*innen, die dem Repressionsapparat trotzten, und von erschöpften Polizist*innen, die ihre Posten verließen, das ohnehin schon randvolle Fass zum Überlaufen. Diese Bilder stellten lediglich klar, dass die arabischen Regime neben ihrer Legitimität nun auch die Fähigkeit verloren hatten, ihre Macht zu erzwingen.

Diskurszentrierte Ansätze: Affektive Bande und politischeSubjektivierungsprozesse

Gleichzeitig stellten die arabischen Revolutionen erneut klar, dass die objektive Existenz von strukturellen Missständen und sozialen grievances nur selten ausreichen, um Revolution in Gang setzen. Vielmehr waren es erst die gut organisierte und geschulte zivilgesellschaftliche Akteure mit Protesterfahrung und funktionsfähigen Mobilisierungsstrukturen, die die Legitimationskrise der Herrschenden als Chance für oppositionelle Allianzbildungsprozesse realisierten und breite gesellschaftliche Mobilisierungspotenziale aktivierten. Gleichzeitig verliehen diverse Koalitionsbildungsprozesse über soziopolitische Spaltungslinien hinweg (etwa zwischen marxistisch inspirierten Gruppen, jungen liberalen NGOs, Gewerkschaften und islamistischen Bewegungen) den Aufständen politische Legitimität. Bezeichnenderweise werden die anfänglichen Erfolge der arabischen Revolutionsbewegungen nahezu unisono auf diese Diversität und die bewegungsübergreifenden Mobilisierungsbemühungen zurückgeführt, die frühere soziale und ideologische Grenzen verwischte (etwa Beissinger/Jamal/Mazur 2015; Durac 2015; Goldstone 2011; Harders/König 2013; Berriane/Duboc 2019). Dieser Befund deckt sich im Übrigen mit den Studien zu protestgetragenen Umbrüchen in anderen Weltregionen, bei denen Protestforscher*innen ebenfalls klassen- und bewegungsübergreifende Allianzbildung als wichtigen Vorläufer erfolgreicher Massenmobilisierungen gegen Autoritarismus identifizierten (siehe hierzu Van Dyke/McCammon 2010).

Diese Koalitionsbildungsprozesse wurden von einer Spaltung des politischen Spektrums in zwei antagonistische Lager begleitet und befördert, die es Revolutionär*innen mit unterschiedlichem ideologischen und sozio-demographischen Hintergrund ermöglichte, sich bei der geteilten Ablehnung des Status Quo zu treffen. Dieser im Kern populistische Diskurs überbrückte politische Gräben, indem er die antagonistische Grenze des politischen Kampfes nicht zwischen verschiedenen Ethnien, Konfessionen oder sozio-politischen Gruppen zog, sondern zwischen „Volk“ und „Regime“ zog. Der ikonische Slogan „al-sha’abyuridisqat al-nizam“ [das Volk will den Sturz des Regimes] zeugt von dieser antagonistischen Formation (siehe Svendsen 2014: 46). Er artikuliert die Gleichheit all jener auf der Straße im Kampf gegen das Regime. Die stark mediatisierten Proteste auf dem Tahrir-Platz waren dabei die Wiege für eine ganz „neue politische Sprache“ (Filali-Ansary 2012), welche soziale Gerechtigkeit und die politische Selbstbestimmung betonte und sich von vormals größtenteils etatistischen und zentralistischen Visionen des Gemeinwesens absetzte.

Die von Demonstrierenden in der gesamten Region geteilte Erfahrung staatlicher Gewalt als Antwort auf ihren Dissens verfestigte diese antagonistischen Subjektivierungsprozesse nur, anstatt die gemeinsame Mobilisierung zu brechen. Insbesondere der Fall Ägypten verdeutlicht dabei den Zusammenhang zwischen staatlicher Repression und zivilgesellschaftlichen Solidarisierungs- und Assoziationsprozessen – etwa der Entscheidung, verschiedener Oppositionsgruppen, sich als Koalitionen zusammenzuschließen und der Staatsgewalt gemeinsam zu trotzen (siehe Said 2014). Diese gemeinsame Teilnahme an Demonstrationen schuf wiederum starke persönliche Bindungen zwischen den ProtestierendensowieVertrauen und gegenseitige Fürsorge – affektive Bande, die für die Resilienz sozialer Mobilisierung trotz beispielloser Polizeigewalt zentral waren (Harders/König 2013). Ein anschließender assoziativer Prozess, über den sich auf den besetzten Plätzen graduell ein Zugehörigkeitsgefühl herausbildete, und der von Ayata und Harders (2018) in Anlehnung an den arabischen Begriff für Platz als „Midan-Moment“ beschrieben wird, bestärkte die kollektive Identifikation mit der Revolutionsbewegung.Aus Zeitzeug*innenberichten – und aus eigener teilnehmender Beobachtung während der ersten Proteste in Ägypten 2011 – wird deutlich, wie sich die Tahrir-Besetzung für viele Demonstrierende trotz der massiven Risiken und der brutalen Übergriffe durch die Polizei wie eine Art „Karneval“ anfühlte (siehe Jasper 2018; Ayata/Harders 2018; Said 2015). Die körperliche Ko-Präsenz auf den besetzten Plätzen, die performative Disruption des autokratischen Status Quo durch gemeinsame Protestperformances, sowie die Erprobung neuer horizontale Organisationsmodelle wurden begleitet von einer Vielzahl sich überlagernder affektiver Dynamiken. Hierbei standen Freude, Erregung und Befreiungsgefühle neben Gefühlen von Anspannung, Wut und Entrüstung, die in ihrem Zusammenspiel die Resilienz der Demonstrierenden gegen die Gewalt des Sicherheitsstaats stärkten.

Lessons learned

Im Mittelpunkt der neuen Protestforschung zum Nahen Osten und Nordafrikas stehen nicht länger die weitreichenden und langfristigen Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur oder die Entstehung sozialer Krisen oder neuer Konfliktlinien, sondern die Verhaltensweisen, Strategien und Emotionen der beteiligten Akteure.

Als Lehre des „Arabischen Frühlings“ für die Bewegungsforschung kann damit erstens gelten, dass es sich lohnt auf ein stärker prozessuales und interaktives Verständnis von Massenprotesten hinzuarbeiten, anstatt endlose Debatten um den (häufig zeitabhängigen) Erfolg oder Misserfolg von Revolutionen zu perpetuieren. Anstatt den soziopolitischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Einfluss von Protestzyklen strukturellen Vorbedingungen, unilinearen Zuschreibungen oder den idiosynkratischen Merkmalen oder Ressourcen einer bestimmten Protestbewegung zuzuschreiben, kann selbiger gewinnbringender als Ergebnisse komplexer interaktiver Kämpfe auf der Mikroebene untersucht werden. Kämpfe, die von strategisch miteinander koalierenden oder konkurrierenden Akteuren in verschiedenen Konfliktarenen ausgetragen werden. Die Realität dieser multiplen Konfrontationsdynamiken ist vielschichtig, ambivalent und bisweilen auch widersprüchlich, da Akteure nicht immer kohärent handeln(siehe hierzu auch MacGinty 2016). Das Bild, das so von Protestbewegungen gezeichnet wird, mag weder schön noch klar strukturiert sein, es ist aber ein differenziertes, das der Wirklichkeit in ihrer Komplexität besser entspricht und das einer Romantisierung von Revolutionen und simplifizierenden Erfolg-Misserfolg-Dichotomien vorbeugt. Insbesondere respektiert solch ein Bild aber die agency der erforschten Akteur*innen ohne sie zu essentialisieren und gleichzeitig alle anderen Akteur*innen – eben jene, die nicht im Fokus der entsprechenden Studie stehen –auf die Rolle einer Kontextvariable für das Handeln der untersuchten Protestakteur*innen zu reduzieren. Eine Herausforderung bestehtindes darin, sich nicht in Interaktionsbeschreibung zu verlieren, sowie in der Entwicklung von Methoden zum fallübergreifenden Vergleich verschiedener Sequenzen von Mikrointeraktionen (siehe Jasper 2019; Weipert-Fenner 2021).

Zweitens, zeigt der „Arabische Frühling“, dass strategische Interaktion nicht nur auf einer materiellen Ebene stattfindet, wo sie sich in einer beobachtbaren Protest-Repressions-Dynamik manifestiert. Gleichermaßen von Bedeutung ist die diskursive Ebene, wo unterschiedliche Lesarten der sozialen Realität von den konkurrierenden Akteuren ausgearbeitet und strategisch gegeneinander in Stellung gebracht werden. Es ist somit nicht nur der öffentliche medial vermittelte Diskurs, an dem Protestakteure selbst kaum teilhaben, der die Formulierung strittiger Forderungen and Adoption bestimmter Handlungsrepertoires begünstigt oder verhindert (wie es etwa klassische discursiveopportunities-Ansätze postulieren). Vielmehr konstituieren auch die Diskurse der mobilisierenden Akteure selbst die Möglichkeitsbedingungen für soziale Ansprüche. Diese Diskurse unterliegen im Kontext von Protestzyklen einem kontinuierlichen Wandel, da sie immer neue Ereignisse (Demonstrationen, Polizeiaktionen, politische Reaktionen auf Proteste etc.) inkorporieren müssen. Sie liefern damit einen hochdynamischen, jedoch unabdingbaren Kontext zur Analyse Interaktionseffekte von politischen Kontrahenten aufeinander.Hierbei spielt die graduelle Erosion oder das strategische Aufbrechen hegemonialer Herrschaftsdiskurse eine essentielle Rolle:„Der Arabische Frühling“veranschaulicht auf eindrucksvolle Weise, wie erst die immer sichtbarer werdenden Brüche in den Legitimationsdiskursen autoritärer Herrscher im Nahen Osten und Nordafrika eine emanzipierende politische Diskursverschiebung möglich machten. Das Narrativ der arabischen Diktatoren, im Namen, zum Wohle und im Auftrag des Volkes zu regieren, verkam durch jahrelange soziopolitische Vernachlässigung, ungleiche wirtschaftliche Entwicklung und verwehrte zivilgesellschaftliche Partizipation zu einem leeren Versprechen. Die Teilnehmer*innen der ersten Massenproteste trugen dazu bei, dieses vor den Augen der Öffentlichkeit zu entlarven. Dadurch erweiterten sie auch den Möglichkeitshorizont für kollektives Handeln;indem sie Widersprüche in den bis dato kaum hinterfragte Interpretationen der sozialen Realität performativ aufzeigten, schafften sie Möglichkeiten, die Grenzen des Denk- und Sagbaren (im Sinne von politischen Alternativen) und des Machbaren (im Sinne von Handlungsspielräumen) neu zu verhandeln. Folglich lässt sich aus der Forschung zum „Arabischen Frühling“ auch ein Appell konstruieren – ein Appell zur Abkehr von methodologischem Nationalismus und dem exklusiven Makrofokus auf größere Protestwellen oder -zyklen, und zur näheren Untersuchung von Protestereignissen hinsichtlich der Bedeutung, die Beteiligte wie Beistehende ihnen beimessen. Denn selbst kleine Brüche können über affektive Dynamiken zu bedeutsamen Trigger-Ereignissen für kollektive Aktionen werden.

Drittens kann die Dekade Forschung zu den arabischen Umbrüchen aber auch als Warnung an die Bewegungsforschung gelten, deren anfänglicher Enthusiasmus über die neue horizontale, egalitäre und präfigurative Protestkultur in der WANA-Regionsich heute als normative Projektionen herausstellen. Die Besonderheit von epochalen Umbrüchen und historischen Zeitenwenden besteht eben gerade nicht darin, dass sich ihre Implikationen unmittelbar erschließen. Vielmehr ist ihr Disruptionspotential gerade darin begründet, dass sie als gesetzt Geglaubtes infrage stellen und damit einer Vielzahl von Akteuren die Möglichkeit eröffnen, politische Alternativen zum Status Quo zu entwickeln – eben auch regressiven Kräften. So schuf der Sturz von Diktatoren in Ägypten, dem Jemen, in Libyen und, wie sich zuletzt zeigte, auch in Tunesien ein Machtvakuum, welches verschiedene revolutionäre und reaktionäre Akteure zu füllen versuchten. Während es den heterogenen Protagonist*innen der Revolutionsbewegungen aber meist nicht gelang, gemeinsam eine affirmative Vision für eine neue partizipatorische Ordnung auszuhandeln, waren es zunächst vor allem fundamentalistische, dann nationalistische und reaktionäre populistische Kräfte, die aus dem Zusammenbruch der alten Regime Kapital schlugen. In den Staaten, in denen die Niederschlagung der Revolution nicht in einem Bürgerkrieg mündete, bilden sie heute das Rückgrat neuer und teils noch brutalerer autokratischer Regime.

Im Rückblickmarkieren die Revolutionen des „Arabischen Frühling“somit nur den Beginn einer neuen Phase in den laufenden Bemühungen der arabischen Zivilgesellschaften, sich dem Autoritarismus zu widersetzen.Für die Protestforschung Grund genug, die Region nicht aus dem Auge zu verlieren.

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