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Rezension: Kathrin Ganz 2018 – Die Netzbewegung. Subjektpositionen im politischen Diskurs der digitalen Gesellschaft. Verlag Barbara Budrich

Auf unserem Blog stellen wir in unregelmäßigen Abständen Buchpublikationen von ipb-Mitgliedern vor. Bisher sind Rezensionen zu folgenden Büchern erschienen:

Melanie Müller. 2017Auswirkungen internationaler Konferenzen auf Soziale Bewegungen (Springer VS), rezensiert von Antje Daniel.

Jochen Roose / Hella Dietz (Hrsg.). 2016 Social Theory and Social Movements. Mutual Inspirations (Springer VS), rezensiert von Janna Vogl.

Sabrina Zajak. 2016. Transnational Activism, Global Labor Governance, and China (Palgrave), rezensiert von Melanie Kryst.

Es folgt nun Friederike Habermann mit einer Rezension zu Kathrin Ganz. 2018.  Die Netzbewegung. Subjektpositionen im politischen Diskurs der digitalen Gesellschaft (Verlag Barbara Budrich). Die Rezension erschien ursprünglich unter dem Titel „Wer bewegt wie was wieso wohin 4.0“ in Heft 3/2018 des Forschungsjournals Soziale Bewegungen.


 

Was ist die Netzbewegung? Was fordert sie? Wer bildet sie? Und wie formt sie wiederum die in ihr aktiven Subjekte, sprich: Wie verändern sich Menschen in ihr und durch sie?

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der ‚Netzbewegung‘ besteht seit nicht einmal zehn Jahren; eine eingehende Untersuchung nicht nur ihrer Ziele, sondern auch ihrer internen Differenzen sowie der Zusammensetzung ihrer Akteur_innen stand bislang noch aus. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin Kathrin Ganz liefert dies mit ihrem Buch ‚Die Netzbewegung‘ (2018), und basiert ihre qualitativ empirische Forschung dabei auf zwei Theorien, die explizit eine machtkritische Perspektive auch auf interne Strukturen aufzeigen: zum einen die diskurstheoretische Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, zum anderen die intersektionale Mehrebenenanalyse von Gabriele Winker und Nina Degele.

Kathrin Ganz, selbst als Netzfeministin bekannt, setzt mit diesen Ansätzen den mit der Netzbewegung verbundenen Anspruch nach P2P-Beziehungen, also Beziehungen unter Ebenbürtigen, auch theoretisch um. Dass das Eingangszitat von Chelsea Manning stammt, kann getrost als Bekenntnis zu einer emanzipatorischen Gesellschaft, auch im queerfeministischen Sinne, verstanden werden. So sind es die „Subjektpositionen im politischen Diskurs der digitalen Gesellschaft“, wie der Untertitel lautet, die Ganz besonders interessieren.

Nerds als neue Elite?

Das öffentliche Bild der Aktiven der Netzbewegung zeichnet sich durch scheinbare Homogenität aus: Es sind der zurückgezogene Nerd und der dauervernetzte ‚Digital Native‘ – beide männlich besetzt. Das Nerd-Stereotyp bildet sich aber auch im Wechselspiel mit heterosexistischen, rassistischen und bodyistischen Repräsentationen heraus; es signifiziert einen Außenseiter, der trotz seiner intellektuellen Fähigkeiten, seines Weißseins und seiner Männlichkeit nicht zur Riege hegemonialer Männlichkeit gehört. Anhand der äußerlichen Veränderung des ehemaligen BILD-Chefredakteurs Kai Diekmann vom Manager-Look zum Nerd argumentiert Ganz allerdings, es komme neuerdings zu einer Erneuerung der hegemonialen Männlichkeit in der Figur des nerdigen Start-Up-Gründers.

Auf der Grundlage von zwölf qualitativ geführten Interviews spürt Ganz den Verhältnissen nach, angefangen bei der Frage, wer sich der Netzbewegung zugehörig fühlt. Dass die Interviewpartner_innen relativ heterogen zusammengesetzt sind, ist vermutlich eine bewusste Entscheidung. Es geht Ganz nicht um eine rein statistische Erhebung, dafür wäre das Sample viel zu klein. Dennoch können aus unterschiedlichen Subjektpositionen heraus Unterschiede festgestellt werden, wie bei den Interviewpartnerinnen Carolin und Hanna, die bei großen Ähnlichkeiten auf der Identitätsebene durch differente Klassenpositionen auf verschiedenen Wegen ins politische Engagement fanden.

Die intersektionale Mehrebenenanalyse von Gabriele Winker und Nina Degele beruht auf dem Ansatz von Kimberlé Williams Crenshaw. Dabei geht es zum einen um die Berücksichtigung gleichzeitiger und letztlich aller Subjektpositionen und damit verbundener Privilegien und Diskriminierungen. Gerade in den jüngeren Ausprägungen wird aber immer auch die Artikulation zwischen diesen Verhältnissen betont, also die Frage, wie diese sich gegenseitig durchdringen und bedingen. So ist die männliche Besetzung des Nerd-Stereotyps wohl auch verantwortlich dafür, dass die im Sample interviewten Frauen sich eher als ‚Übersetzerinnen‘ zwischen Nerds und ‚Normalos‘ definieren. Das Stereotyp der „scheiternden heterosexuellen Männlichkeit“ lässt keinen Platz für Frauen als gleichberechtigte ‚Mit-Nerds‘, so Ganz; „sie bleiben Objekte, die präventiv verworfen werden“ (220). Gleichzeitig kommt es bei den Interviews teilweise zu einer Selbstdefinition der Netz-Aktivist_innen als gesellschaftlicher Avantgarde. Entsprechend wird von anderen innerhalb der Bewegung die Forderung erhoben, mit dem „Nerd-Pride“ aufzuhören.

Die ‚Freiheit des Internets‘ als verbindendes Element

Die auf Antonio Gramsci gründende und von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe diskurstheoretisch weiterentwickelte Hegemonietheorie erlaubt ebenfalls die Untersuchung der in einer Gesellschaft geronnenen, materialisierten Machtverhältnisse in ihrer Heterogenität; darüber hinaus liefert sie ein Werkzeug zur diskursanalytischen Untersuchung von Sprache und Text. In diesem Sinne nutzt Ganz die Diskurstheorie für das Herauskristallisieren des „Hegemonieprojekts“ der Netzbewegung, also der Forderung, bzw. Utopie, hinter der sich die Netzbewegung sammelt.

Auf diese Weise schält Ganz die ‚Freiheit des Internets‘ als ‚leeren Signifikanten‘ der Bewegung heraus; mit dieser theoretischen Figur erklären Laclau/Mouffe das verbindende Element einer jeden Bewegung, welches zugleich so wenig in sich aussagt, dass letztlich alle Forderungen der Netzbewegung damit repräsentiert werden können

Gemeinsam ist den Aktivist_innen ein Narrativ, wonach das Internet hauptsächlich durch Kooperation und den freien Austausch von Information entstanden ist, womit es eine emanzipatorische Technologie darstellt, welche staatliche und ökonomische Interessen unterminiert. Was genau sich damit für die Aktivist_innen verbindet, ist dagegen sehr unterschiedlich: Vom Eintreten für Netzneutralität über die Ablehnung von Eigentumsrechten an digitalen Gütern und Plattformneutralität im Sinne eines diskriminierungsfreien Zugangs gesellschaftlich relevanter Infrastrukturen bis hin zur grundsätzlichen Ablehnung kapitalistischer Verwertungslogik. Insofern interessiert sich Ganz auch für das Ringen um Hegemonie innerhalb der Bewegung als „Hegemonieprojekt 2. Ordnung“ insbesondere untersucht sie hierfür die gegensätzlichen Positionen beim Thema Post-Privacy, also der Frage nach der Bedeutung von Datenschutz einerseits und Transparenz andererseits.

Vom digitalen Subjekt zur digitalen Solidarität?

Dabei bindet Ganz ihre Interviews zurück auf gesamtgesellschaftliche Diskurse aufgrund bestimmter Entwicklungen wie dem ‚Krieg gegen Terror‘ oder die Enthüllung von Edward Snowden. Das Verhältnis von Technologie und Gesellschaft wird als sich wechselseitig konstituierend verstanden. Auch in diesem Sinne ist die Netzbewegung nicht als völlig neuartiges Phänomen zu sehen, sondern als eine Neue Soziale Bewegung im klassischen Sinne, so Ganz. Doch welcher grundlegende soziale Wandel wird angestrebt?

Die Medienspezialisten Christian Fuchs und Felix Stalder betonen den sich durch die IT-Revolution zuspitzenden Widerspruch zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnis. Gleichzeitig beobachten sie eine neue Form ‚digitaler Solidarität‘ und eines ‚networked individualism‘. „Digitale Subjekte“ strebten nach Austausch und Kollaboration, nicht nach Ausschluss und Konkurrenz, so Stalder. Im Anschluss an dessen Überlegungen formuliert Ganz: „Die Netzbewegung in Deutschland steht damit nur exemplarisch für das politische Begehren eines zum vernetzten Individuum subjektivierten Subjekts, die Gesellschaft im Ganzen so zu gestalten, dass sie seinen Entfaltungs- und Verknüpfungsbedürfnissen gerecht wird“ (167). Da der Zugang zu Infrastrukturen, die Kommunikation und Vernetzung erlauben, die Möglichkeit reguliere, sich als vernetztes Individuum zu entfalten, verstünden viele Aktive der Netzbewegung gesellschaftliche Veränderungen nicht als Resultat von Kämpfen, sondern als Anpassung eines Systems an die Bedürfnisse der Nutzer_innen.

Das Ergebnis ist eine Bewegung, die zwar stark von ‚a-kapitalistischen‘ Praktiken geprägt ist, deren verbindendes Element jedoch bereits brüchig wird, was sich auch an der mangelnden Mobilisierungsfähigkeit nach dem von Edward Snowden enthüllten Skandalen zeigt. Und dennoch macht Kathrin Ganz‘ Untersuchung gespannt darauf, in welche Richtung sich die Netzbewegung weiterentwickeln wird, und welche gesellschaftlichen Impulse wir von ihr weiterhin erwarten können.

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