Auf unserem Blog stellen wir in unregelmäßigen Abständen Buchpublikationen von ipb-Mitgliedern vor. Die verlinkte Liste der bereits besprochenen Bücher befindet sich am Ende des Beitrags. Es folgt nun Julia Baumann (München) mit einer Rezension zu Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet und Ben Noble 2021: Nawalny: Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft (Hoffmann und Campe Verlag). Die Rezension erschien ursprünglich unter dem Titel „Alexej Nawalny: Porträt von Russlands bekanntestem Oppositionspolitiker“ in Heft 2/2022 des Forschungsjournals Soziale Bewegungen.
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Schon über eineinhalb Jahre ist es her, dass Alexej Nawalny, Russlands wohl bekanntester Oppositioneller, mit einem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet und anschließend in Deutschland behandelt wurde. Bei seiner Rückkehr nach Russland im Januar 2021 wurde er festgenommen und bald zu mehreren Jahren Straflager verurteilt. Mittlerweile ist Nawalny über ein Jahr in Haft, seine Anti-Korruptions-Stiftung und regionalen Büros wurden als extremistisch eingestuft, viele seiner ehemaligen Mitarbeiter*innen sind bereits emigriert, gegen andere laufen Prozesse.
Wer genau jedoch ist dieser Mensch, der die russischen Machthaber offensichtlich so verunsichern muss, dass diese sich zum Handeln gezwungen sehen? Der nach einer lebensbedrohlichen Vergiftung wieder nach Russland zurückkehrte, obwohl ihm dort die Verurteilung zu mehreren Jahren Haft bevorstand? Der von manchen als demokratischer Held gesehen, von anderen für seine rassistischen Aussagen kritisiert wird und wiederholt zehntausende Menschen auf die Straßen brachte?
All diesen Fragen gehen die Politikwissenschaftler Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet und Ben Noble in ihrem auf Englisch und Deutsch erschienen Buch „Nawalny: Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft“ nach.Es ist die erste Monografie über Russlands prominentesten Regimekritiker, die sein politisches Wirken bis zu seiner Inhaftierung 2021 analysiert.Damit gelingt den Autoren eine bemerkenswert zeitnahe Einordnung und ein wertvoller Beitrag zum Verständnis oppositioneller Tätigkeit in einem System, dessen Repressionen gegenüber regimekritischen Aktivitäten vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine immer härter und umfassender werden.
Nawalny als komplexe und anpassungsfähige politische Figur
Die drei Russlandexperten präsentieren ein vielschichtiges Porträt von Alexej Nawalny, indem sie seinen politischen Werdegang von einem Aktivisten für Minderheitsaktionäre und „unbedeutenden Blogger” (30) zur „wichtigsten politischen Gegenmacht des Landes” (186) nachzeichnen. Dabei handelt es sich weder um eine chronologische Aufarbeitung noch um eine Biografie. Im Vordergrund steht eine empirisch gehaltvolleAnalyse der drei Rollen, die der Oppositionspolitiker aus Sicht der Autoren in der Öffentlichkeit wiederholt eingenommen hat und denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist: Nawalny als Anti-Korruptions-Aktivist, als Politiker und als Anführer von Protesten.Die Russlandforscher betrachten detailliert und systematisch viele Facetten seiner komplexen Persönlichkeit, wasangesichts dessen, dass Nawalny in den russischen und westlichen Medien mal als Liberaler, Nationalist, Freiheitskämpfer oder Politiker mit autoritärem Führungsstil dargestellt wird, die Orientierung erleichtert.
In der Tat hat Nawalnyimmer wieder Veränderungen in seiner Strategie und auch Ideologie erkennen lassen. Manch einer mag dies opportunistisch nennen; Dollbaum, Lallouet und Noble hingegen sehen gerade in dieser Fähigkeit zurkontinuierlichen Anpassung an neue Gegebenheiten in einem sich ständig wandelnden politischen System die Bedingung für den Erfolg Nawalnys (132-133).Wo formale politische Teilhabe, etwa durch die Nicht-Registrierung bei Wahlen behindert wurde, setzte er auf Straßenprotest und strategisches Wählen; wo nationalistische Forderungen nicht verfingen,fokussierte er stärker auf das Thema ökonomische Ungleichheit; wo der Zugang zu staatlichen Massenmedien verwehrt blieb, baute er seine Online-Präsenz aus und nutzte den Anti-Korruptions-Aktivismus zur Mobilisierung.Zusammen mit einem wachsenden Team und mittels hochgradig professioneller, beinahe unternehmerischer Organisation, gelang es ihm damit, über den Zeitverlauf seine Reichweite und seinen landesweiten Bekanntheitsgrad signifikant zu steigern (49-71).
Nicht nur Nawalny passte sich an die Beschränkungen durch das russische Regime an. Auch der Kreml hat auf die Herausforderungen durch Nawalny reagiert, was in einem eigenen Kapitel thematisiert wird. Zwar waren diese Reaktionen – wie das Autorenteam mehrfach betont – in der Regel nicht ausschließlich gegen ihn gerichtet (226).Die im Buch aufgeführten Beispiele zeigenjedoch eindrücklich, dass die russischen Machthaber Nawalny „außerordentlich ernst” (246) nehmen unddie Blockierung der Webseite von Nawalnys Smart Voting-Strategie[1] vor der Parlamentswahl 2021 durch die russischen Behörden kann hier als weiterer Beleg dienen.
Dollbaum, Lallouet und Noble sehen in Nawalny den „zweitwichtigste[n] Politiker” (186) des Landes, machen gleichzeitig aber deutlich, dass der Kreml-Kritiker in Russland sehr umstritten ist und nur von einem kleinen Kreis eher jüngerer Menschen unterstützt wird (26-27). Die Mehrheit der Bevölkerung steht ihm kritisch gegenüber (249-250). Auch wenn die Autoren einige soziologische Untersuchungen heranziehen, verzichten sie leider auf Umfragewerte zur Bereitschaft der Bürger*innen, bei einer Wahl für Nawalny zu stimmen.
Das Schlusskapitel lenkt den Blick auf Nawalny und die Zukunft Russlands. Dabei verbreiten die Russlandforscher keinen naiven Optimismus, denn für sie bildet der Umgang des Kreml mit dem Oppositionellen die zunehmende Schließung des Regimes ab (252). Eine Chance für das Fortwirken von Nawalnys Bewegung hingegen sehen sie in den vom Oppositionspolitiker mobilisierten Unterstützer*innen, denn diese würden sich auch weiterhin für politische Veränderungen einsetzen (251-252), und zwar primär deshalb, weil die von ihnen verfolgten Ziele zwar von Nawalny mobilisiert, aber letztlich von ihm unabhängig seien (181-182).
Beitrag für das Verständnis von Politik in Russland
Die Wissenschaftler Dollbaum, Lallouet und Noble aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien nehmen eine Außenperspektive ein, die auf ihrer tiefen und ausgewiesenen Kenntnis des Landes und seines politischen Systems beruht.Jan Matti Dollbaum forscht zu politischen Protestaktionen in Osteuropa mit einem Fokus auf Russland und hat zur Institutionalisierung von Protest in Russlands Regionen promoviert. Morvan Lallouet schreibt an der University of Kent seine Doktorarbeit zu Alexej Nawalny. Ben Noble lehrt russische Politik am UCL London und ist Senior Research Fellow an der Higher School of Economics Moskau.
Ihr Buch ist in verständlicher Sprache und gleichzeitig spannend verfasst, womit es einer über das akademische Fachpublikum hinausgehenden Leser*innenschaft zugänglich ist. Aber auch für Russlandforscher*innen hält die sehr gut recherchierte Monografie das ein oder andere spannende Detail bereit. Trotz der teilweise sehr kurzen Unterkapitel, die an manchen Stellen etwas verstreut wirken, verliert das Buch seinen roten Faden nicht.
Die größte Stärke der Arbeit liegt in der Vielschichtigkeit und Sachlichkeit der Analyse von Nawalny und der politischen Realität Russlands. Die Autoren werden ihrem Ziel gerecht, die „Grautöne zu analysieren“ (23) und kommen trotz der oft hitzig geführten Debatte um die Figur Nawalny ohne merkliche Wertungen aus. Stattdessen geben sie der Leser*in den nötigen Kontext und das Hintergrundwissen an die Hand, damit sie/er sich ein eigenes Bild machen kann.
Dabei gelingt es ihnen, die oft wahrgenommenen Widersprüche in Nawalnys Netzwerk und seinem politischen Wirken zu analysieren. Dazu gehörtsowohl seine Hinwendung zum Nationalismus, als auchdie Tatsache, dass er zwar für ein demokratischeres Russland einsteht, seine eigene Organisation aber eher autoritär leitet. Positiv fällt auf, dass alle in der internationalen Berichterstattung häufig anzutreffenden stereotypen Darstellungen Nawalnys, beispielsweise als Populist oder Rassist, eingeordnet und kenntnisreich diskutiert werden. Was manche Leser*innen enttäuschen mag, ist gleichzeitig auch eine Stärke des Buches: Bei manchen Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten und das machen die Russlandforscher transparent, etwa, wenn es um Nawalnys Einstellungen zu Nationalismus geht; ob er diese mittlerweile geändert habe, bleibe unklar (109).
Eine weitere Stärke liegt in der kontextuellen Einbettung des Phänomens Nawalny, die einem fachfremden Publikum die Lektüre erleichtern wird. Denn Dollbaum, Lallouet und Noble gehen immer wieder auf den Kontext ein, der relevant ist, um Nawalnys Wendungen, sein Wirken, aber auch seine Wahrnehmung in der russischen Gesellschaft zu verstehen: die Korruption der Eliten in Russland und ihr Beitrag zum Machterhalt Putins, das autoritäre politische System, das gesellschaftliche Misstrauen gegenüber der Politik. Zusätzlich erfährt man einiges über die Konflikte innerhalb der liberalen Opposition sowie die große – und in weiten Teilen echte – Unterstützung Putins durch die Bevölkerung.
Die Erkenntnisse der Autoren stützen sich auf einen umfangreichen Korpus russisch- und englischsprachiger journalistischer und anderer Online-Quellen, einschlägige akademische Literatur, Umfrage-Daten und Interviews mit Mitarbeiter*innen und Aktivist*innen aus Nawalnys Bewegung.Es ist ein Vorzug des Buches, dass die Autoren auch Nawalnys Anhänger*innenschaft selbst zu Wort kommen lassen, denn aus diesen Einblicken ergeben sich beachtenswerte Erkenntnisse. So sind viele Aktivist*innen nicht mit allem zufrieden, was Nawalny tut. Sie kritisieren etwa die Top-Down-Organisation der Bewegung oder seine migrationspolitischen Forderungen (172-181), sind aber bereit, diese Meinungsverschiedenheiten zugunsten eines übergeordneten politischen Ziels zurückzustellen. Dieses Ziel ist die Anfechtung der gegenwärtigen politischen Ordnung Russlands. Und hierfür sehen sie Nawalny am ehesten geeignet – manche gar als „Instrument” des Wandels (174).
Dollbaum, Lallouet und Noble leisten mit ihrem Buch einen sehr wichtigen und zudem ausgewogenen Beitrag für ein besseres Verständnis der komplexen politischen Persönlichkeit Nawalnys sowie der Opposition und Politik in Russland.
[1]Bei „Smart Voting” handelt es sich um eine elektorale Strategie, die zum Ziel hat, bei Wahlen im Mehrheitssegment alle Oppositionsstimmen auf jenen Kandidaten eines Wahlkreises zu vereinen, der die höchste Chance hat, gegen den Bewerber von „Einiges Russland“ zu gewinnen. Hierfür gab Nawalnys Team wenige Tage vor der Wahl die aus seiner Sicht aussichtsreichsten Kandidaten je Bezirk übers Internet bekannt.2019 wurde die Wahlstrategie zunächst auf kommunaler, 2020 zusätzlich auf regionaler Ebene angewendet und 2021 schließlich auf die Duma-Wahlen ausgeweitet.
Foto: Michael Gubi on flickr
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Auf unserem Blog stellen wir in unregelmäßigen Abständen Buchpublikationen von ipb-Mitgliedern vor. Bisher sind Rezensionen zu folgenden Büchern erschienen:
Ganz, Kathrin. 2018. Die Netzbewegung. Subjektpositionen im politischen Diskurs der digitalen Gesellschaft (Verlag Barbara Budrich), rezensiert von Friederike Habermann.
Müller, Melanie. 2017. Auswirkungen internationaler Konferenzen auf Soziale Bewegungen (Springer VS), rezensiert von Antje Daniel.
Roose, Jochen / Dietz, Hella (Hrsg.). 2016 Social Theory and Social Movements. Mutual Inspirations (Springer VS), rezensiert von Janna Vogl.
Zajak, Sabrina. 2016. Transnational Activism, Global Labor Governance, and China (Palgrave), rezensiert von Melanie Kryst.
Daphi, Priska/Deitelhoff, Nicole/Rucht, Dieter/Teune, Simon (Hg.) 2017: Protest in Bewegung? Zum Wandel von Bedingungen, Formen und Effekten politischen Protests (Leviathan Sonderheft, Nomos), rezensiert von Luca Tratschin.
della Porta, Donatella (Hg.): 2018. Solidarity Mobilizations in the ‚Refugee Crisis‘ (Palgrave), rezensiert von Leslie Gauditz.
Daphi, Priska 2017: Becoming a Movement – Identity, Narrative and Memory in the European Global Justice Movement (Rowman & Littlefield), rezensiert von Johannes Diesing.
Mullis, Daniel 2017: Krisenproteste in Athen und Frankfurt. Raumproduktionen der Politik zwischen Hegemonie und Moment (Westfälisches Dampfboot), rezensiert von Judith Vey.
Wiemann, Anna 2018: Networks and Mobilization Processes: The Case of the Japanese Anti-Nuclear Movement after Fukushima (Iudicium), rezensiert von Jan Niggemeier.
Lessenich, Stephan 2018: Neben uns die Sintflut: Wie wir auf Kosten anderer Leben. München (Piper), sowie Brand, Ulrich/Wissen, Markus 2017: Imperiale Lebensweise: Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im Kapitalismus (oekom), rezensiert von Fabian Flues.
Grote, Jürgen R./Wagemann, Claudius 2019: Social Movements and Organized Labour (Routledge), rezensiert von Susanne Pernicka.
Maik Fielitz/Nick Thurston (Hg.) 2020: Post-Digital Cultures of the Far Right. Online Actions and Offline Consequences in Europe and the US (Transcript), rezensiert von Tobias Fernholz.
Grimm, Jannis/Koehler, Kevin/Lust, Elisabeth/Saliba, Ilyas/Schierenbeck, Isabelle 2020. Safer Field Research in the Social Sciences. A Guide to Human and Digital Security in Hostile Environments (Sage), rezensiert von Luca Miehe.
Vey, Judith/Leinius, Johanna/Hagemann, Ingmar 2019: Handbuch Poststrukturalistische Perspektiven auf soziale Bewegungen Ansätze, Methoden und Forschungspraxis (Transcript), rezensiert von Alexandra Bechtum und Carolina A. Vestana.
Bosse, Jana 2019: Die Gesellschaft verändern. Zur Strategieentwicklung in Basisgruppen der deutschen Umweltbewegung (Transcript) und Lay-Kumar, Jenny 2019: Aktivismus zwischen Protest und Gestaltungsraum. Jugendumweltgruppen und ihr Verhältnis zum Klimaschutz (Transcript), rezensiert von Andreas Kewes.
Haunss, Sebastian/Sommer, Moritz 2020 (Hg.): Fridays for Future. Die Jugend gegen den Klimawandel: Konturen der weltweiten Protestbewegung (Transcript), rezensiert von Phillip Knopp
Steinhilper, Elias 2021: Migrant Protest: Interactive Dynamics in Precarious Mobilizations (Amsterdam University Press), rezensiert von Tanita Jill Pöggel