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Die Querdenken-Proteste als Herausforderung für die Bewegungsforschung

Seit 2018 schreiben Autor*innen des ipb in einer eigenen Rubrik des Forschungsjournals Soziale Bewegungen: “ipb beobachtet”. Die Rubrik schafft einen Ort für pointierte aktuelle Beobachtungen und Beiträge zu laufenden Forschungsdebatten und gibt dabei Einblick in die vielfältige Forschung unter dem Dach des ipb.

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Der folgende Text von Simon Teune erschien unter dem Titel “Querdenken und die Bewegungsforschung – Neue Herausforderung oder déjà-vu?” im Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 34, Heft 2.2021. Simon Teune ist Vorstandsvorsitzender des Instituts für Protest- und  Bewegungsforschung (ipb). Kontakt:simon.teune@iass-potsdam.de


Wie so oft, wenn aktuelle Proteste als neuartig wahrgenommen werden, führten auch die Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu etlichen Anfragen bei Protestforscher:innen. Der Bedarf zur Einordnung und Analyse war selten so augenscheinlich, wie bei den jüngsten Protesten der Gruppen „Querdenken“ oder „nicht ohne uns“, die im Kontext der Pandemie neu entstanden waren. Das Auftauchen und der zwischenzeitlich massenhafte Zulauf der Querdenker:innen bleibt verwirrend. Vier Aspekte dieses Phänomens scheinen die gewohnten Muster von Protesten in Deutschland zu durchbrechen.

(1) Die Heterogenität der an den Protesten beteiligten Gruppen, von bürgerlichen Grünenwähler:innen über kauzige Hippies bis hin zu strammen Neonazis. (2) Die von Ort zu Ort sehr unterschiedlichen Mischungsverhältnisse dieser Gruppen, die kein klares Gesamtbild ergeben, sondern eher dem Blick durch ein Kaleidoskop ähneln. (3) Die vielgestaltige und zum Teil widersprüchliche Verwendung von Symbolen, die gewohnte Bedeutungszuschreibungen in Frage stellt. Und (4) die zum Teil schwer nachvollziehbaren Deutungsmuster, die die Proteste antreiben und viele Beteiligte in kurzer Zeit zu einer radikalen Ablehnung politischer Institutionen veranlasst haben. Diese Ablehnung ist zum Teil verbunden mit der Legitimation – und immer häufiger auch mit der Anwendung von Gewalt.

Die Querdenken-Proteste sind also eine Herausforderung für die Protest- und Bewegungsforschung. Aber sind die einzelnen Aspekte wirklich neu? Oder erleben wir nicht vielmehr ein déjà-vu, in dem Sinne, dass sich diese Beobachtungen in länger bekannte Entwicklungen einfügen?

Strange Bedfellows

Die Querdenken-Protestwelle begann mit den „Hygienedemos“, die erstmalig am 28. März 2020 auf dem Berliner Rosa-Luxemburg-Platz organisiert und von der Polizei aufgelöst wurden. Bald entstanden an vielen Orten ähnliche Initiativen. Die größte mediale Aufmerksamkeit bekamen dabei die schnell anwachsenden Proteste der Gruppe „Querdenken 711“ aus Stuttgart. Nach dem Muster („Querdenken“ mit angehängter Ortsvorwahl) benannten sich bald auch Gruppen in anderen Orten. Gemeinsam mobilisierten diese regionalen Ableger schließlich zu zwei großen Demonstrationen in Berlin am 1. und 29. August 2020, an denen sich mehrere zehntausend Teilnehmer:innen beteiligten. Ähnlich hohe Zahlen wurden seitdem zwar nicht mehr erreicht, doch halten die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen weiter in dichter Taktung an, auch nach neuen Höchstwerten bei den Infektions- und Todeszahlen im Dezember 2020.

Von Anfang an war es vor allem die ungewohnte Mischung der versammelten Gruppen, die journalistische, politische und forschende Beobachter:innen rätseln ließ. Die Demonstrationen zogen Protagonist:innen aus dem gesamten rechten Spektrum genauso an, wie Familien im Jack Wolfskin Partnerlook, trommelnde und tanzende Gruppen in Batik-Klamotten und in die Jahre gekommene Friedensaktivist:innen. Diese auf den ersten Blick widersprüchliche Heterogenität spiegelt sich auch in einer Befragung wieder, die Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frey (2020: 10) unter den Abonnent:innen jener Telegram-Kanäle durchgeführt haben, die für die Organisation und den Austausch der Querdenker:innen zentral waren. Unter den Befragten sind Wähler:innen der Grünen und der Linken genauso überdurchschnittlich vertreten wie Wähler:innen der AfD (die größte Gruppe wählte allerdings eine nicht im Bundestag vertretene Partei). Auch wenn die Befragung eher die Milieus abbildet, aus denen sich die Querdenken-Proteste rekrutieren, als dass sie sich unmittelbar auf die Zusammensetzung der Demonstrierenden übertragen ließe, findet sich auch hier die bei den Protesten zu beobachtende Mischung.

Trotz aller Verblüffung über die ungewohnte Zusammensetzung zeigt sich bei genauerer Betrachtung der jüngeren Protestgeschichte, dass sich bei den Querdenken-Protesten ein Trend fortsetzt, der sich schon früher abzeichnete: die Erosion der Hemmschwelle bei vielen Bürger:innen, mit der extremen Rechten gemeinsam zu demonstrieren. Bei den Montagsmahnwachen für den Frieden, die 2014 in Reaktion auf einen drohenden Krieg in der Ukraine entstanden (Daphi et al. 2014), und bei den gleichzeitig stattfindenden Protesten gegen Geflüchtete, die in den Pegida-Protesten ihren Höhepunkt fanden, gehörte die Mehrheit der Teilnehmenden nicht der organisierten rechten Szene an. Deren Anwesenheit (und in Teilen auch deren Rolle als Organisator:innen) verstanden die Teilnehmenden aber nicht als Problem, sondern vielmehr als Ausdruck von Offenheit und als Zeichen für die breite Unterstützung ihrer Anliegen. Bereits bei den Montagsmahnwachen vermischten sich Demonstrierende mit linkem Selbstverständnis, rechte Kader, Verschwörungsgläubige und esoterische Figuren, die den Weltfrieden durch Meditation herbeiführen wollten. Mit den Querdenken-Protesten hat die damals eingeübte libertäre Haltung, dass alle im Protest willkommen sind, wenn sie nur eine gemeinsame Botschaft teilen, jetzt breitere Kreise gezogen. Tatsächlich ist der gemeinsame Nenner nicht eine durch politische Grundsätze begründete Position, sondern eine eher diffuse Oppositionshaltung gegenüber einer als bedrohlich und fremd empfundenen Politik. Vor diesem Hintergrund sieht, wer sich an den Protesten beteiligt, auch kein Problem darin, mit Reichsbürger:innen, Verschwörungsanhänger:innen, Hooligans oder Rechtsextremen zu demonstrieren. Neu ist allenfalls der linksbürgerliche Hintergrund vieler Demonstrierender, die sich diese Haltung zu eigen gemacht haben. Waren es bei den Pegida-Protesten vor allem rassistische Ressentiments, die vorher Unbeteiligte auf die Straße trieben, sind es heute stärker libertäre Ressentiments gegen einen übergriffigen Staat, die im Aufbegehren gegen die Maskenpflicht und die laufende Impfkampagne ihren Ausdruck finden.

Regionale Mischungsverhältnisse

Bei allen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen waren Akteure der extremen Rechten von Beginn an präsent. Abgeordnete und prominente Mitglieder der AfD beteiligten sich an den ersten Kundgebungen in Berlin und Stuttgart. Rechte Youtuber:innen dokumentierten die Proteste und verschafften ihnen (und damit auch ihren Kanälen) bundesweite Aufmerksamkeit. Allerdings spielte die extreme Rechte an den verschiedenen Orten eine unterschiedlich prominente Rolle. Während bekannte Rechte in den ostdeutschen Flächenländern als Anmelder:innen und Ordner:innen die Initiative ergriffen, blieben sie in Berlin und in den westlichen Bundesländern eher Teilnehmende und Berichterstatter:innen. Insofern ist durchaus nachvollziehbar, dass Protestteilnehmer:innen in den letztgenannten Orten von dem medialen Fokus auf die Beteiligung von Neonazis und Reichsbürger:innen brüskiert waren und sich durch die Berichterstattung in ihrer Deutung einer Verschwörung politischer und journalistischer Eliten bestätigt sahen (Nachtwey et al. 2020: 12).

Wie setzen sich die Proteste an den einzelnen Orten zusammen? Welche Rolle spielen die unterschiedlichen Gruppen? Wenn man verstehen will, wer lokal für Proteste ansprechbar ist, hat man es leichter, wenn diese von etablierten sozialen Bewegungen wie der Frauen- oder Umweltbewegung organisiert werden. Diese mobilisieren bestehende politische Netzwerke und in erster Linie diejenigen, die sich schon früher an Protesten beteiligt haben. Aussagen über die Zusammensetzung von Protesten, die nicht auf solche etablierten Netzwerke zurückgreifen, sind weniger berechenbar. „Copycat-Proteste“, wie die von Querdenken, nehmen lediglich ein Deutungsangebot, einen Namen und Formen des Protestes als gemeinsames Bezugssystem und können somit ohne Erfahrung und Vorkenntnisse einfach an anderen Orten kopiert werden (im Fall der Corona-Proteste auch von rechten Netzwerken). Diese Dynamik von Vorreiter-Protesten, die an anderen Orten kopiert werden, unterscheidet die Querdenker:innen nicht von früheren Copycat-Protesten wie Occupy, den Montagsmahnwachen oder den „Gida-Protesten“. Solche Proteste bringen vor allem Menschen auf die Straße, die noch nie oder schon lange nicht mehr demonstriert haben. Die Verbindungen, an die sie anknüpfen, liegen jenseits organisierter politischer Initiativen, zum Beispiel im gemeinsamen Bezug auf einen Konsens, der sich auf Social Media oder in Messenger-Kommentaren herausgebildet hat. Bei den Querdenker:innen waren es vor allem Youtube-Videos, die den Boden für die Proteste bereiteten, indem sie Zweifel an der Gefährlichkeit des Corona-Virus thematisierten und die politische, mediale und wissenschaftliche Diskussion als einseitig darstellten.

Die skizzierte Dynamik ihrer Entstehung und die regional sehr unterschiedliche Zusammensetzung der beteiligten Gruppen erschweren allgemeine Aussagen über alle Querdenken-Ereignisse deutlich. Dazu kommt die Unklarheit über die Entwicklung der Mischungsverhältnisse über Zeit. Es bleibt schwer einzuschätzen, ob und inwieweit sich die Querdenken-Proteste im Zeitverlauf entmischt haben. Die abnehmenden Teilnahmezahlen können so gedeutet werden, dass sich Menschen, die in der Hochphase der Proteste im Sommer 2020 eine diffuse Unzufriedenheit mit den Einschränkungen der Corona-Maßnahmen auf die Straße trieb, zum Teil abgewandt haben – etwa wegen der Prominenz der extremen Rechten und einer schriller werdenden Rhetorik – während andere die Erfahrung der großen Proteste noch weiter in ihrer Position bestätigte. Sie können aber auch als erwartbare Ermüdung im Verlauf einer Protestwelle gelesen werden.

Symbolische Verwirrung

Das Nebeneinander von sich widersprechenden Symbolen ist ein zusätzliches Moment der Verwirrung bei der Betrachtung der Querdenken-Proteste. Bei den Demonstrationen waren Protestsymbole Seite an Seite zu sehen, die zuvor nicht gleichzeitig auf einer Veranstaltung zu finden waren – allenfalls auf unterschiedlichen Seiten bei Protest und Gegenprotest. In Berlin trug ein stadtbekannter Holocaust-Leugner die Regenbogenfahne durch die Demonstration, die schwarz-weiß-rote Flagge des deutschen Chauvinismus wehte neben Plakaten mit Bezug auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Und in München verteilten Neonazis das Grundgesetz.

Die Widersprüche in den Protestsymbolen sind Ausdruck der unterschiedlichen Hintergründe der Beteiligten: Reichsbürger:innen und Friedensaktivist:innen brachten die Zeichen der Bewegungen mit, in deren Tradition sie ihre Teilnahme verstanden. In der Gleichzeitigkeit der Symbole zeigt sich der angesprochene libertäre oder post-ideologische Konsens. Gemeinsamkeit stiften vor allem die historischen Bezüge in der Beschwörung einer „Corona-Diktatur“. So wurde die Querdenken-Demonstration in Leipzig im November 2020 als historisches Reenactment der Montagsdemonstration am 6. November 1989 inszeniert, die dem Sturz des SED-Regimes vorausging (Stach & Hartmann 2020). Auch auf Plakaten und Memes wurde Angela Merkel „Dein 1989“ angekündigt. Noch prominenter und von Anfang an präsent ist die Gleichsetzung der staatlichen Corona-Maßnahmen mit dem Nationalsozialismus. Sie zeigen sich in der Rede von der „gleichgeschalteten Presse“ oder vom „Ermächtigungsgesetz“ mit Bezug auf das Infektionsschutzgesetz, aber auch in der sekundär antisemitischen Selbstinszenierung der Protestierenden als Opfer mit „ungeimpft“-Judensternen oder in der Identifikation mit Protagonist:innen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.

Gerade dieser Umgang mit Symbolen ist aber auch Teil einer Strategie der Rekontextualisierung, die in der extremen Rechten eine lange Tradition hat. Symbole des NS-Widerstandes und der liberalen Demokratie, z.B. die Person Sophie Scholl oder das Grundgesetz, werden angeeignet und mit neuer Bedeutung gefüllt. Diese Strategie ist mindestens ein halbes Jahrhundert alt: Zu Zeiten der sozialliberalen Ostpolitik nutzte die NPD zusammen mit anderen Organisationen der extremen Rechten das Grundgesetz und die schwarz-rot-goldene Fahne, obwohl beide Symbole diametral der eigenen Position entgegenstanden. Sie wendeten sie gegen die Regierung, um sich selbst als die wahren Verteidiger deutscher Grundrechte zu inszenieren. Auch die Aneignung dezidiert linker Protestsymbole durch die extreme Rechte ist schon für die frühen 2000er Jahre beschrieben worden, als bei einer NPD-Demonstration Teilnehmer mit Palästinenser-Tuch und Che-Guevara-T-Shirt auftraten, um nationale (und anti-israelische) Befreiungskämpfe für sich zu vereinnahmen. Die heutige Verwirrung über einen Rechtsextremen mit Regenbogenfahne ist bei genauerer Betrachtung ein déjà-vu.

Radikale Deutungsangebote

Auch die inhaltliche Begründung und die Deutungsangebote der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen lassen sich in länger zu beobachtende Entwicklungen einordnen. Die bei den Querdenken-Protesten mehrheits-, wenn nicht sogar konsensfähige Deutung, die Pandemie werde von sinistren Eliten ausgenutzt, um demokratische Grundrechte auszuhebeln und Kritiker:innen zu knebeln, ist eine konspirative Erzählung, die am Thema „Corona“ neu ausbuchstabiert wird, deren Struktur indes keinesfalls neu ist. Bei den Montagsmahnwachen waren es etwa kriegslüsterne Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien, die keine Kritik zulassen wollten. Schon damals waren die Proteste in einer Form angekündigt, die Verschwörungsgläubige besonders ansprach und antisemitische Deutungen beförderte. Und schon damals sahen sich die Protestierenden in der Kritik von außen, wie dem Verweis auf Neonazis und Verschwörungserzählungen, in ihrer eigenen Opferrolle bestätigt. Dieselbe populistische Blaupause fand sich auch bei den Pegida-Protesten wieder, auf denen die Einwanderung im Sommer 2015 als Teil eines Planes zum „großen Austausch“ der weißen Bevölkerung imaginiert wurde. Auch bei Pegida werden die öffentlich-rechtlichen Medien als Propagandainstrumente der politischen Eliten verstanden. Unterstützung für eine humane Einwanderungspolitik wird wahlweise mit Verblendung oder der Steuerung durch George Soros erklärt.

Mit den Querdenken-Protesten hat sich dieses Deutungsmuster auch für neue Zielgruppen als mobilisierungsfähig erwiesen. Das generalisierte Misstrauen gegenüber Mächtigen findet sich zum Teil sicher auch bei jenen, die zuvor in Protesten für den Atomausstieg oder gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA aktiv waren. Einige von ihnen schließen vom Profitinteresse der Pharma-Konzerne und der diesen freundlich gesinnten Politik auf konspirative Zusammenhänge. Mit den Corona-Protesten finden solche Vorstellungen, die etwa bei den TTIP-Demonstrationen von Seiten der Organisator:innen offensiv und für alle Teilnehmer:innen sichtbar kritisiert wurden, eine breite Bühne. Die Proteste mobilisieren zudem auch Gruppen, die in den gesundheitspolitischen Maßnahmen, insbesondere in der anlaufenden Impfkampagne einen Angriff auf ihre körperliche Selbstbestimmung sehen. Hier finden sich Schnittmengen zu stark verwurzelten Überzeugungen in anthroposophischen und evangelikalen Milieus.

Trotz dieser Überschneidungen zeichnet sich auch ab, dass die Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen bei den Protesten vertretenen Spektren Grenzen hat. Die fehlende Grenzziehung gegenüber der extremen Rechten führte zum einen nicht dazu, dass die AfD hier vermeintlich brach liegendes Wähler:innenpotenzial abschöpfen kann. Zum anderen wurden Ideologeme der extremen Rechten nur zum Teil von den neuen Bündnispartner:innen übernommen. Die Befragung unter Querdenken-Sympathisant:innen zeigte deutlich, dass Rassismus und Rechtsautoritarismus unter ihnen nicht mehrheitsfähig sind (Nachtwey et al. 2020: 27-33). Deutlich anschlussfähiger waren dagegen Deutungsmuster der Reichsbürger:innen, die die Souveränität Deutschlands in Frage stellen und eine verfassungsgebende Versammlung fordern, um das in ihren Augen provisorische Grundgesetz abzulösen. Dass Michael Ballweg, der Initiator von „Querdenken 711“, die Demonstration am 29. August 2020 zu ebendieser verfassungsgebenden Versammlung erklärte und dass die Forderung nach einem Friedensvertrag auf einer Demonstration zu Grundrechten und Gesundheitspolitik als normal angesehen wird, hat solchen Ideen neuen Auftrieb gegeben.

Die Gemeinsamkeiten in der Einordnung der Corona-Krise wie auch der Reaktionen auf die Proteste sind der Kitt, der die unterschiedlichen Gruppen zusammenhält. Verbindend sind die konkreten Erfahrungen von Polizeimaßnahmen und Versammlungsverboten, bzw. der sich herausbildende Konsens in den Kommentarspalten unter Videos oder Nachrichten, die davon berichten. Verbindend sind aber auch die Marginalisierungserfahrung, als „Covidioten“ oder „Nazis“ bezeichnet zu werden, oder die Erzählungen vom gemeinsamen Gegner aus Regierung, Medien und Gegenprotest. Die Selbststilisierung zu Widerstandskämpfer:innen und zugleich Opfern eines perfiden Systems hat nicht nur den Zusammenhalt zwischen sehr unterschiedlichen Gruppen bei den Querdenken-Protesten bestärkt, sondern für viele auch die Anwendung von Gewalt plausibel und denkbar gemacht. Gewalt- und Bestrafungsfantasien sind von Beginn an Teil der Überzeichnung der Infektionsschutzmaßnahmen als „Corona-Diktatur“. Wurde die Anwendung von Gewalt anfangs noch im Sinne der Notwehr imaginiert, werden mittlerweile von einem großen Teil der Proteste aggressives Verhalten und Übergriffe bekannt. Ziele sind dabei immer wieder Journalist:innen, die die Proteste dokumentieren, Gegendemonstrant:innen und Polizeibeamt:innen, die Auflagen oder Versammlungsverbote durchsetzen müssen. Bei den Demonstrationen in Leipzig und anlässlich der Abstimmung über das Infektionsschutzgesetz in Berlin, beide im November 2020, gab es sowohl Unterstützung von einem Großteil der Teilnehmenden für die extremen Rechten, die die Polizei angriffen, als auch Gewalt von Teilnehmenden, die nicht diesem Spektrum zugeordnet werden konnten. Diese Radikalisierung der Deutungsmuster in Gewalthandeln ist in ihrer Geschwindigkeit neu.

Blickt man auf die Entwicklungslinien, die den Querdenken-Protesten vorangehen, dann relativiert sich die Verwirrung, die sie anfangs auslösten. Wir erleben an vielen Punkten ein déjà-vu. Keiner der Mechanismen, die sich bei dieser Protestwelle beobachten lassen, ist völlig neu: (1) Das Zusammengehen der organisierten Rechten mit politisch weniger eindeutig zuzuordnenden Gruppen und ihrem Selbstverständnis nach linken Teilnehmer*innen, (2) die lokal sehr unterschiedliche Zusammensetzung der Proteste unter dem gemeinsamen Banner einer diffusen, aber weit reichenden Kritik, (3) die Aneignung und Rekontextualisierung von Protestsymbolen wie auch (4) die Zusammenhalt stiftende und radikalisierende Wirkung konspirativer Ideen.

Die Proteste von Querdenken sind aber ein weiterer Beleg dafür, dass breite Teile der Gesellschaft für konspiratives Umsturzdenken ansprechbar und dadurch mobilisierbar sind. Und die Proteste zeigen, in welchem Tempo solche Mobilisierungen die Beteiligten bis zur Befürwortung von Gewalt radikalisieren können. Diese neue Dynamik sollte die Protest- und Bewegungsforschung stärker in den Blick nehmen. Zum einen geht es darum, für den konkreten Fall der Querdenken-Proteste zu verstehen, wie die ungewöhnliche Koalition unterschiedlicher Gruppen zusammenfinden konnte. Zum anderen sind die Querdenker:innen ein weiterer Fall, um jenen neuen Protesttypus zu konturieren, der auf verallgemeinertem Misstrauen gegenüber politischen Institutionen und den Medien beruht, über das in sozialen Medien Konsens hergestellt wird.

Literatur 

Daphi, Priska/Rucht, Dieter/Stuppert, Wolfgang/Teune, Simon/Ullrich, Peter 2014: Occupy Frieden. Eine Befragung von Teilnehmer/innen der „Montagsmahnwachen für den Frieden”. Berlin: Institut für Protest- und Bewegungsforschung, https://protestinstitut.eu/wp-content/uploads/2015/03/occupy-frieden_ipb-working-paper_web.pdf

Nachtwey, Oliver/Schäfer, Robert/Frei, Nadine 2020: Politische Soziologie der Corona-Proteste. Universität Basel, https://www.unibas.ch/dam/jcr:ba4b18d1-9c70-4764-9cce-e7252a26c351/Bericht_Umfrage_Coronaproteste_Soziologie_Uni_Basel_17_12_20.pdf

Stach, Sabine/Hartmann, Greta 2020: Friedliche Revolution 2.0?. Zur performativen Aneignung von 1989 durch „Querdenken“ am 7. November 2020 in Leipzig. Zeitgeschichte-online, https://zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/friedliche-revolution-20

Foto by 7C0 via Flickr.com (CC BY 2.0)

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