Auf unserem Blog stellen wir in unregelmäßigen Abständen Buchpublikationen von ipb-Mitgliedern vor. Die verlinkte Liste der bereits besprochenen Bücher befindet sich am Ende des Beitrags. Es folgt nun Larissa Meier (Bielefeld) mit einer Rezension zu Martin Langebach (Hg.) „Protest. Deutschland 1949-2020“ (Bundeszentrale für politische Bildung). Die Rezension erschien ursprünglich unter dem Titel „Vom ersten Ostermarsch zu Pegida – die vielfältigeProtestgeschichte der Bundesrepublik“ in Heft 3/2022 des Forschungsjournals Soziale Bewegungen
Proteste gehören zum alltäglichen politischen Leben in der Bundesrepublik. Wenn auch nur ein kleiner Teil der Bevölkerung sich aktiv am Protestgeschehen beteiligt, betrachtet eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Demonstrationen, Streiks, Petitionen und andere Formen des Protests mittlerweile als ein legitimes Mittel der politischen Teil- und Einflussnahme. Es mag darum aus heutiger Sicht verwundern, dass Protest lange als eine unkonventionelle Form des politischen Engagements betrachtet, und – im Vergleich zu konventionellen Formen, wie der Teilnahme an Wahlen oder der Mitgliedschaft in politischen Parteien – nur selten zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung gemacht wurde. Dies änderte sich erst in den letzten Jahren, in welchen die Forschung zur Entstehung, Ausgestaltung und Wirkung von Protest – nicht zuletzt durch die Herausbildung der Bewegungsforschung als ein eigenständiges wissenschaftliches Teilgebiet der Politikwissenschaft in Deutschland – stark zugenommen hat und wir nunmehr über ein analytisch wie empirisch fundiertes, wenn auch immer noch lückenhaftes, Wissen über das deutsche Protestgeschehen verfügen.
Von der analytischen Auseinandersetzung mit Protest …
Der vorliegende Band hat sich vor diesem Hintergrund das Ziel gesetzt, die deutsche Protestgeschichte von 1949 bis 2020 exemplarisch nachzuzeichnen sowie zentrale analytische Fragen zu Protest zu diskutieren. Im Zentrum des Bandes steht die empirische Darstellung einer Auswahl von Protestereignissen, welche durch sechs analytische Kapitel gerahmt wird, in denen unterschiedliche Dimensionen von Protest diskutiert und in Bezug auf das deutsche Protestgeschehen analysiert werden.
Das erste Kapitel weist auf das Spannungsverhältnis von Demokratie und Protest hin: Protest ist einerseits ein zentraler und öffentlich wirksamer Ausdruck demokratischer Freiheiten und kann als Laboratorium für demokratische Innovationen fungieren; gleichzeitig äußert sich Protest teilweise gewaltförmig und/oder wird als Mittel zur Verbreitung gruppenfeindlicher Denkmuster und anti-demokratischer Einstellungen genutzt. Protest ist also weder per se demokratisch noch per se progressiv, darauf weisen nicht zuletzt die aktuellen Coronaproteste hin, bei denen die teils anti-demokratischen Denkmuster der Demonstrierenden deutlich zum Ausdruck kommen.
Das zweite Kapitel diskutiert die in der Bewegungsforschung in Bezug auf verschiedene Ebenen konstatierte(n) Normalisierungsthese(n) und zeigt auf, dass trotz des gestiegenen Protestvolumens, und der breiten gesellschaftlichen Akzeptanz von Protest, in Bezug auf die dritte Ausprägung der These – die Nutzung von Protest durch ein repräsentativen Teil der deutschen Bevölkerung – nur bedingt von einer Normalisierung gesprochen werden kann. Zwar hat sich Protest seit den 1960er Jahren von einer Domäne der Linken und gesellschaftlich exkludierter Gruppen zu einer Beteiligungsform entwickelt, welche unabhängig von Geschlecht, Alter und politischer Couleur von breiten Teilen der Gesellschaft genutzt wird; gleichzeitig treffen die Demokratsierungstendenzen in Bezug auf den Bildungsstand jedoch nicht zu: Protest ist ein Mittel der besser Gebildeten, um ihren politischen Einfluss zu stärken, während Bevölkerungsgruppen mir geringeren sozio-ökonomischen Ressourcen nur selten protestieren.
Das dritte Kapitel analysiert die Vielzahl von Protestformen, welche weit über die allseits bekannten Demonstrationszüge hinausgehen und ästhetische Ausdrucksmittel genauso umfassen können wie Formen des zivilen Ungehorsams. Die Wahl wie auch die Wirkung bestimmter Protestformen ist dabei jeweils Ausdruck historisch gewachsener Praktiken und aktueller gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Dies ist für Protestierende insofern vorteilhaft als sie mittels innovativer und teils disruptiver Taktiken, Aufmerksamkeit auf sich ziehen können; gleichzeitig sehen sich Protestierende mit der Herausforderung konfrontiert, die breitere Öffentlichkeit nicht durch die Wahl von Mitteln abzuschrecken, welche als illegitim betrachtet werden.
Auf die bereits thematisierte mangelnde Repräsentation bestimmter Gruppen und Interessen im Protestgeschehen wird auch im vierten Kapitel hingewiesen, welches die thematische Ausgestaltung und den Verlauf verschiedener Protestzyklen analysiert und aufzeigt, dass jede Protestwelle tendenziell andere Themenfelder und Akteurskonstellationen mobilisiert. Gleichzeitig weist die Analyse auf die mangelnde Abbildung bestimmter gesellschaftlicher Problemlagen hin, so beispielsweise im Bereich ökonomische Ungleichheit und Ressourcenverteilung, welche nur selten auf die Straße getragen und damit zu einem Thema öffentlicher Auseinandersetzung gemacht werden. Gleichzeitig deutet die zunehmende Präsenz migrantischer Gruppen und die damit einhergehende Artikulation bisher wenig thematisierter gesellschaftlicher Problemlagen wie Rassismus oder Polizeigewalt auf das emanzipatorische Potential von Protest hin.
Das fünfte Kapitel diskutiert die zentrale Bedeutung von Öffentlichkeit für die Verbreitung und Wirkung von Protest. Demonstrierende sind darauf angewiesen, dass ihre Anliegen durch die Medien verbreitet werden und dadurch – im besten Falle – ein breiter öffentlicher Druck entsteht. Darin liegt jedoch auch ein Dilemma, folgt die mediale Berichterstattung über Protest doch ihrer eigenen Logik, welche Protestierende zwar für sich nutzen, aber nur bedingt kontrollieren können. Disruptive Protestformen beispielsweise werden zwar mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von den Medien rezipiert und breit diskutiert; sie bergen jedoch auch die Gefahr, dass die Forderungen der Protestierenden als illegitim betrachtet und marginalisiert werden und/oder dass Konflikte über die Nutzung von Gewalt Protestgruppen spaltet. Die Wahl der Protestmittel ist darum eng mit der Frage nach den Folgen von Protest verknüpft. Letztere wurden im Vergleich zur Entstehung von Protest bisher nur vereinzelt beforscht, was nicht zuletzt daran liegt, dass in Analysen vonProtestfolgen – wie das sechste Kapitel anschaulich aufzeigt – nicht nur verschiedene Wirkungsweisen unterschieden werden müssen, welche sich wiederum auf unterschiedlichen Ebenen manifestieren; zusätzlich gilt es auch immer zu fragen, ob nicht weitere Bedingungsfaktoren eine ebenso große oder bedeutendere Rolle spielen. Nichtsdestotrotz hat die Forschung gezeigt, dass Protest nicht „nur“ neue Themen setzen und damit latente Konflikte sichtbar machen, sondern auch zu Regimetransformation oder – weniger umfassend – zu Veränderungen auf der Ebene des politischen Institutionengefüges, wie der politischen Parteien oder rechtlicher Normen, führen kann.
… zum empirischen Zeitbild der deutschen Protestgeschichte
Die analytische Auseinandersetzung mit zentralen Fragen der Bewegungsforschung stellt eine gelungene Rahmung der empirischen Darstellung des Protestgeschehens dar, erlaubt sie es dem Leser doch die einzelnen Protestereignisse sowohl historisch als auch in Bezug auf ihre Ausgestaltung und ihre Funktion und Wirkung auf den politischen Prozess einzuordnen. Nichtsdestotrotz bildet die Darstellung einer Vielzahl von Protestereignissen klar das Kernstück des Bandes. Die Beiträge zu mehr als neunzig Ereignissen überzeugen durch eine gelungene Kombination von szenischen Elementen, Hintergrundinformationen zum Entstehungskontext, sowie Analysen zur politischen und kulturellen Wirkung der jeweiligen Ereignisse. Hervorzuheben ist zudem auch, dass die allermeisten Autor*innen auf die Interaktion von Protestgruppen mit weiteren relevanten Akteuren hinweisen und damit deutlich machen, dass sich die Entwicklung und Wirkung von Protestereignissen und Kampagnen nur als eine Folge dieser Auseinandersetzungen verstehen lassen. Um Eskalationsdynamiken hin zur Gewaltverständlich zu machen, ist es unabdingbar,Konfrontationen zwischen Protestierenden mit Sicherheitskräften und/oder Konflikte innerhalb und zwischen Protestgruppen in den Blick zu nehmen. Dasselbe gilt auch für die Wirkung von Protest, welche sich in den allermeisten Fällen durch das Zusammenspiel von Protestierenden mit institutionalisierten Akteuren und Prozessen ergibt und nicht durch das Handeln der Protestierenden allein. Gleichzeitig weist die Thematisierung des dynamischen Elements von Protest in den empirischen Analysen auf eine zentrale Leerstelle im analytischen Teil hin, wo Interaktionsprozesse eher unterbelichtet bleiben.
Die empirische Auseinandersetzung überzeugt auch durch die Wahl der Protestereignisse, welche die thematische Breite und die Vielzahl der Protestformen abbilden und neben weithin bekannten Ereignissen, wie den Montagsdemonstrationen in der DDR oder den Pegidaprotesten, auch unbekannteren, aber nicht minder relevanten Auseinandersetzungen, wie den Hungerstreiks von Bergleuten nach der Wende oder den „Kein 10. Opfer!“ Demonstrationen 2006, Raum gibt.[1] Einzig die geringe Repräsentation von Auseinandersetzungen zu den Themen Infrastruktur und Diaspora überrascht etwas. Die Leerstelle in Bezug auf Infrastrukturproteste mag teilweise der Datenlage geschuldet sein, spielen sich letztere doch oft auf der lokalen Ebene ab, welche von der Protestforschung bisher nur unzureichend beleuchtet wurde. Diasporamobilisierungen, wie beispielsweise die 2022 von der ukrainischen Diaspora organisierten Kundgebungen zur militärischen Invasion Russlands in der Ukraine, hingegen enthalten eine transnationale Komponente, welche ebenfalls ein eher neueres Gebiet der Forschung darstellt.
Umfassend und kreativ trotz einiger Leerstellen
Während die empirische Auseinandersetzung mit Protestereignissen weitestgehend überzeugt, lässt sich dies nur bedingt für die analytischen Auseinandersetzungen festhalten. Zwar werden, wichtige Fragen der Protestforschung diskutiert, die zentralen theoretischen Ansätze, welche sich innerhalb des Forschungsfeldes herausgebildet und maßgeblich zum Verständnis von Protest beigetragen haben, bleiben jedoch überraschend unterbelichtet. Dies ist insofern bedauerlich, als dass sich gerade das Zusammenspiel der drei bedeutendsten Erklärungsperspektiven – Politische Gelegenheitsstrukturen, Ressourcenmobilisierung und Framing – als sehr effektiv erwiesen hat, die Entstehung und Entwicklung sowie – wenn auch in geringerem Maß – die Wirkungsweise von Protest zu erklären. Eine kurze Darstellung der jeweiligen Erklärungsfaktoren hätte es der Leserin jedoch erlaubt, die Hintergründe einiger der diskutierten Befunde, wie beispielsweise die mangelnde Repräsentation bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und Interessen in und durch Protest, besser zu verstehen. Zudem werden die am Protest beteiligten Akteure nur sehr kursorisch dargestellt. Dies gilt insbesondere für die Protestierenden selbst, also deren Organisations- und Kooperationsformen, als auch für staatliche Organisation, wie politische Parteien, die Regierung, Sicherheitskräfte, Gerichte usw., und nicht-staatliche Gegenkräfte, deren Reaktionen auf Protestmaßgeblich zur Entwicklung von Protestereignissen und deren Folgen für den Politikbetrieb beitragen. Natürlich lässt der Anspruch des Bandes, einen umfassenden Überblick über zentrale Fragen der Protestforschung sowie das deutsche Protestgeschehen zu bieten, keine detaillierte Auseinandersetzung mit einzelnen Theoriesträngen und Akteurskonstellationen zu, dennoch wären kürzere Darstellungen des empirischen Protestgeschehens in den analytischen Kapiteln, welche sich teils repetitiv gestalten, und dafür eine eingehendere Auseinandersetzung mit Theorien und Akteuren wünschenswert gewesen.
Trotz dieser Kritikpunkte bietet der Band eine umfassende, kreative und äußerst spannende Auseinandersetzung mit der deutschen Protestgeschichte sowie der Frage nach dem Zusammenhang von Protest, Demokratie und politischer Teilhabe. Damit ist er nicht nur für Protestforscherinnen und Protestforscher interessant, sondern bietet Anknüpfungspunkte für ein breites, an Politik und Geschichte interessiertes Publikum.
[1] Nach der Ermordung von Halit Yozgat am 6. April 2006 fand in Kassel ein Schweigemarsch mit der Forderung „Kein 10. Opfer!“ statt. Die mehrheitlich aus migrantischen Communities stammenden Teilnehmer forderten bereits damals die Aufklärung der Mordserie, die erst über 5 Jahre später als rassistische Morde durch die neonazistischeGuppe NSU bekannt wurde.
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