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Britta Baumgarten (1975-2018)

Am 17. Oktober 2018 ist unsere Kollegin, Freundin und Weggefährtin Britta Baumgarten nach längerer Krankheit viel zu früh verstorben.

Ihr besonderes Interesse an der Protest- und Bewegungsforschung verfolgte Britta bereits während ihres Soziologiestudiums an der Universität Bielefeld. Eine mehrmonatige Forschung über Zivilgesellschaft in Ecuador resultierte in ihrer Diplomarbeit. Anschließend arbeitete sie ab 2002 für vier Jahre an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg in dem EU-Projekt Contentious Politics of Unemployment in Europe (UNEMPOL), das sich mit Arbeitslosigkeit und der politischen Partizipation Arbeitsloser befasste (Lahusen/Baumgarten 2010). Sie brachte sich nicht nur mit großem Engagement in die vielfältigen Aufgaben eines kollaborativen Forschungskontextes ein, sondern entwickelte vor allem einen ansteckenden Enthusiasmus für Fragen des kollektiven Protesthandelns benachteiligter Menschen. Ihre Arbeit war dabei einem rigorosen wissenschaftlichen Anspruch verpflichtet. Besonders aber zeichnete sie während der Feldforschungen und der Auswertungen ein hohes Maß an Sensibilität aus; sie wollte der Lebenswirklichkeit der Arbeitslosen gerecht werden. Die Mitarbeit in einem internationalen Forschungsprojekt entsprach ganz ihrem Naturell, denn als offener und sehr neugieriger Mensch hatte sie eine Gabe für kulturübergreifende Kooperationen.

Im August 2008 kam sie in die Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. In der Gruppe übernahm sie eine konstruktive und loyale Rolle, vertrat aber auch selbstbewusst und wenn nötig mit Nachdruck ihre Positionen. Zu Beginn war sie noch mit der Arbeit an dem Buch beschäftigt, das aus ihrer Dissertation hervorgehen sollte (Baumgarten 2010), die sie an der Universität Duisburg-Essen 2009 abschloss. Gleichzeitig orientierte sie sich in der transnationalen Dynamik von Armut und politischer Mobilisierung neu. Dieses Interesse brachte sie in das VW-Projekt The Transnationalization of Struggles for Recognition ein, in dem sie den Doktorand*innen mit ihrer einfühlsamen Kritik eine wertvolle Unterstützung war. Uns Kolleg*innen erwies sich Britta in den Pausen immer wieder als aufmerksame und unterhaltsame Gesprächspartnerin. Unter anderem ging es um ihren – allgemein unterschätzten – Wohnbezirk Moabit. Als sich in der Kneipe im Erdgeschoss ihres Wohnhauses mit den „Bürgern in Angst Moabit“ eine rechtspopulistische Nachbarschaftszelle bildete, besuchte Britta mehrere Treffen, um zu verstehen, was die Menschen dort bewegte. Dieses Motiv begeisterte sie auch an der Methode der Demonstrationsbefragung, an der sie bei einer Montagsdemonstration gegen Stuttgart 21 beteiligt war (Baumgarten/Rucht 2013). Von den Hartz IV-Gegner*innen bis zu den „Wutbürger*innen“ ging es ihr darum, die Stimmungen und Haltungen der Menschen zu verstehen und für andere greifbar zu machen. Offenheit war Britta ebenso wichtig wie die grundsätzliche Akzeptanz anderer Positionen.

Britta verlagerte 2010 ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt nach Portugal. Sie war sich bewusst, dass sie zum richtigen Zeitpunkt kam, um den Verlauf der Anti-Austeritätsbewegungen in Portugal zu beforschen. Noch 2011 musste Lissabon Notkredite beantragen und stand danach für vier Jahre unter fiskalischer Kontrolle der Gläubiger-Troika. Britta arbeitete in ihren Projekten nicht nur über die aktuellen Entwicklungen zu Krisenprotesten und gesellschaftlichen Auswirkungen der Austeritätspolitik in Portugal (Baumgarten 2012), sondern auch vergleichend im lusophonen Sprach- und Kulturraum zu sozialen Bewegungen von Arbeitslosen in Brasilien. In dem Zusammenhang absolvierte sie 2013 einen Forschungsaufenthalt an der Federal University of Santa Catarina, Florianópolis in Brasilien, und hielt engen Austausch mit ihren brasilianischen Kolleg*innen. Darüber hinaus interessierte sie sich für die transnationalen Kooperationsformen von sozialen Bewegungen und die politische Partizipation von Gruppen, die gewöhnlich von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen bleiben. Zu den Ergebnissen dieser Arbeiten zählen verschiedene viel beachtete Artikel wie „Geração à Rasca and beyond“ (Baumgarten 2013) und – im Zusammenhang mit Kontinuitätslinien und Erinnerungen in sozialen Bewegungen – ihr Aufsatz „The children of the Carnation Revolution? “ (Baumgarten 2017a).

Seit ihrer Ankunft am CIES-IUL (Centre for Research and Studies in Sociology am Lisbon University Institute) – ausgerechnet dem Institut, an dem sie bereits während des Studiums ihr ERASMUS Semester absolviert hatte – integrierte sich Britta sozial und professionell schnell in das portugiesische Universitätssystem, allerdings nicht ohne ihrem eigenen Anspruch entsprechend selbst ihren neuen Schaffensort mitzugestalten. Sie organisierte in kollaborativen Formaten mit diversen Kolleg*innen öffentliche Seminarreihen, Workshops und Konferenzen. Es ging ihr dabei darum, einerseits soziale Bewegung und Protest verständlich und lebensnah an die Universität zu holen und andererseits eine konstruktiv-kritische, aber auch inspirierende Diskurskultur mit zu kreieren. Sie betreute Abschlussarbeiten von Student*innen und war dabei als anspruchsvolle und enorm unterstützende Betreuerin beliebt.

Doch Britta forschte nicht nur international, sie war auch sehr präsent in internationalen Forschungsnetzwerken, darunter dem Research Committee on Social Movements and Social Classes des internationalen Soziologieverbandes. Zuletzt war sie im Sommer 2018 auf dem Weltsoziologiekongress in Toronto vertreten. Voller Elan und Zuversicht wollte sie sich in die Planungen für den nächsten Forumsprozess in Porto Alegre Brasilien stürzen – ein Ort, der ihr als Forscherin und Aktivistin vertraut war. Auch dort werden sie ihre über die ganze Welt verstreuten Freund*innen vermissen.

Selbst aus großer Entfernung verfolgte Britta als aktives Mitglied der ersten Stunde die Aktivitäten des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Wann immer sie es einrichten konnte, war sie bei uns. Schon vor der Gründung des ipb war Britta in einschlägigen Netzwerken der Bewegungsforschungs-Landschaft aktiv. Hierzu zählte das DFG-Nachwuchsnetzwerk „Neue Perspektiven auf soziale Bewegungen und Protest“, das von 2010 bis 2014 gefördert wurde. Neben ihrer sehr engagierten Beteiligung an den verschiedenen Arbeitstreffen des Netzwerkes und einem Beitrag zu Foucault in der Bewegungsforschung (Baumgarten/Ullrich 2016) war Britta Ko-Herausgeberin eines Sammelbandes zum Konzept der Kultur in der Bewegungsforschung (Baumgarten et al. 2014). Ihr Interesse galt dabei speziell den lokalen und nationalen kulturellen Besonderheiten, die sich im Kontext der Globalisierung erhalten oder sogar verstärken. Ihre Thesen und Interessen diskutierte sie bei den Buchworkshops immer mit großer Konzentration. Nicht zuletzt hat Britta dabei auch mit ihrer Offenheit und Großzügigkeit beeindruckt, speziell im Kontext der langen Herausgeber*innensitzungen an ihrem Küchentisch im verregneten Lissabon.

Ihr konstantes Interesse an den Themen Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ungerechtigkeit trieb sie in den vergangenen Jahren verstärkt auch als Betroffene auf die Straßen Lissabons, mit dem Anliegen die eigenen prekären Arbeitsbedingungen anzuprangern. Damit war sie selbst Teil einer sozialen Bewegung, die die Arbeitssituation von Akademiker*innen in Portugal zum Anlass für Protest nahm, weil sozialversicherungspflichtige Arbeitsverträge Mangelware sind und (sozialwissenschaftliche) Forschung chronisch unterbezahlt ist.

Britta erhielt nicht nur viel Wertschätzung von akademischen Kolleg*innen, sondern war durch ihre zahllosen Teilnahmen an Demonstrationen in Portugal auch als solidarische und engagierte Begleiterin bei Aktivist*innen anerkannt und beliebt. Sie wusste jedoch ihre verschiedenen Rollen auseinanderzuhalten. So gelang es ihr, beobachtende und verstehende Wissenschaftlerin, empathische Unterstützerin und ungerechtigkeitssensible Bürgerin in einem zu sein, und dabei dennoch differenziert ihre verschiedenen Perspektiven einzunehmen und andere für diese zu sensibilisieren.

So bleiben unzählige Erinnerungen an eine sehr lebensfrohe, starke und inspirierende Denkerin, Freundin, Kollegin und politisch engagierte Mitstreiterin; an einen Menschen, der durch einen tiefen Sinn für soziale (Un-)Gerechtigkeit sowie Solidarität und Anteilnahme viele andere Menschen bewegt hat; an eine Kämpferin, die mit ihrer Passion, mit Optimismus und Einsatzvermögen Kolleg*innen und Student*innen Inspiration war. Es bleibt aber auch ein Erbe ihrer wissenschaftlichen Agenda, welches es hinsichtlich seiner Sensibilität für Kultur (Baumgarten et al. 2014), kollektive Erinnerung (Baumgarten 2017a) und transnational vergleichende und kooperative Momente (Baumgarten/Díez García 2017; Baumgarten 2017b; Baumgarten/Amelung 2017; Amelung/Baumgarten 2017) in sozialen Bewegungsforschungsfragen zu pflegen, aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln gilt.

Wir sind in unseren Gedanken bei Brittas Familie, insbesondere bei ihrem kleinen Sohn und ihrem Partner. Britta, wir werden dich als Freundin, Weggefährtin und Kollegin sehr vermissen.

 

Nina Amelung, Priska Daphi, Eva Gerharz, Christian Lahusen, Roland Roth, Dieter Rucht, Simon Teune, Peter Ullrich, Sabrina Zajak

 

Literatur

Amelung, Nina/Baumgarten, Britta 2017: The Transnational Perspective of Political Participation. Linkages and Differences between Social Movement and Public Participation Studies. In: Global Society, Jg. 31, Heft 1, 3-22.

Baumgarten, Britta 2010. Interessenvertretung aus dem Abseits. Erwerbsloseninitiativen im Diskurs über Arbeitslosigkeit. Frankfurt: Campus.

Baumgarten, Britta 2012. „Antes da Dívida temos Direitos!” Proteste gegen prekäre Beschäftigung in Portugal. http://www.demokratie-goettingen.de/blog/es-antes-da-divida-temos-direitos [03.12.2018].

Baumgarten, Britta 2013. Geração à Rasca and Beyond. Mobilizations in Portugal after 12 March 2012. In: Current Sociology, Jg. 61, Heft 4, 457-473.

Baumgarten, Britta 2017a. The Children of the Carnation Revolution? Connections between Portugal’s Anti-austerity Movement and the Revolutionary Period 1974/1975. In: Social Movement Studies, Jg. 16, Heft 1, 51-63.

Baumgarten, Britta 2017b. The Global Justice Movement: Resistance to Dominant Economic Models of Globalization. In: Berger, Stefan/Nehring, Holger (Hg.): The History of Social Movements in Global Perspective. London: Palgrave Macmillan.

Baumgarten, Britta/Amelung, Nina 2017. Public Participation and Social Movement Research: Connecting Perspectives to Gain Broader, Sharper and more Innovative Insights about Transnational Political Participation? In: Global Society, Jg. 31, Heft 1, 144-155.

Baumgarten, Britta/Daphi, Priska/Ullrich, Peter (Hg.) 2014. Conceptualizing Culture in Social Movement Research, London: Palgrave Macmillan.

Baumgarten, Britta/García, Rubén Díez 2017. More than a Copy Paste: The Spread of Spanish Frames and Events to Portugal. In: Journal of Civil Society, Jg. 13, Heft 3, 247-266.

Baumgarten, Britta/Ullrich, Peter 2016. Discourse, Power, and Governmentality. Social Movement Research with and beyond Foucault. In: Roose, Jochen/Dietz, Hella (Hg.): Social Theory and Social Movements. Wiesbaden: Springer, 13–38.

Lahusen, Christian/Baumgarten, Britta 2010. Jenseits des sozialen Friedens. Frankfurt/Main: Campus.

Baumgarten, Britta/Rucht, Dieter 2013. Die Protestierenden gegen „Stuttgart 21“ – einzigartig oder typisch? In: Brettschneider, Frank/Schuster, Wolfgang (Hg.): Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz. Wiesbaden: Springer VS Verlag, 97-125.

 

Weitere Informationen über Forschung zu sozialen Bewegungen in Portugal bietet folgender Blog, der von Britta betreut wurde: https://portuguesemovements.hypotheses.org/about

Britta Baumgartens Orcid Profil: https://orcid.org/0000-0002-7323-1833

 

Dieser Text erscheint auch in der Rubrik „ipb beobachtet“ in Heft 1.2019 des Forschungsjournal Soziale Bewegungen.

Foto: Hugo Cruz, CIES – IUL Centro de Investigação e Estudos de Sociologia

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