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Bewegungsforschung und Mediendesign

Seit 2018 schreiben Autor*innen des ipb in einer eigenen Rubrik des Forschungsjournals Soziale Bewegungen: “ipb beobachtet”. Die Rubrik schafft einen Ort für pointierte aktuelle Beobachtungen und Beiträge zu laufenden Forschungsdebatten und gibt dabei Einblick in die vielfältige Forschung unter dem Dach des ipb.

Bisher sind folgende Beiträge erschienen, die alle auch auf unserem Blog zu lesen sind:

Der folgende Text von Philipp Knopp, Tereza Maletz, Peter Fikar und Tilo Grenz erschien unter dem Titel “Bewegungsforschung und Mediendesign. Warum sich die soziale Bewegungsforschung in das Design digitaler Medien einmischen sollte” im Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 33, Heft 4.2020. Philipp Knopp ist Mitglied des Instituts für Protest- und  Bewegungsforschung (ipb).
Kontakt: philipp.knopp@univie.ac.at


Mittlerweile gehört die Annahme, dass digitale Medien soziale Bewegungen nachhaltig verändern, zu den Binsenweisheiten der Protest- und Bewegungsforschung. Sie prägen Protestrepertoires, die Mobilisierung und die Prozesse der Institutionalisierung von sozialen Bewegungen. Die Digitalisierung kann Protestierenden Zugang zu neuen Öffentlichkeiten verschaffen; sie macht sie unabhängiger von der Berichterstattung der Massenmedien, vereinfacht die Etablierung und Aufrechterhaltung transnationaler Solidarbeziehungen und ermöglicht neue Protestformen und -orte (Kannengießer 2014). Zuletzt haben die digitalen Protestformen und Diskussionsforen eine gewisse Kontinuität von Protesten in der Coronakrise ermöglicht. Viele soziale Bewegungen verlagerten ihre Proteste auf Internetplattformen oder griffen auf bereits bewährte Formen digitalen Engagements zurück. So konnten wichtige Kommunikationsbeziehungen aufrechterhalten werden, auch wenn diese Interaktionen (ohne physischen Kontakt) oft von den Protagonist*innen selbst als defizitär wahrgenommen wurden. Soziale Bewegungsakteur*innen experimentierten auch mit den widerständigen Potentialen kommerzieller Onlineplattformen. „Zoom-Streiks“ und „Zoom-Bombings“ sind wohl die aufsehenerregendsten Varianten dieser eigensinnigen Medienpraktiken. Auf solche Aktionen folgten sogar Anpassungen der Videokommunikationsplattform durch eine Veränderung der Zutrittsregulierung.

Auf der anderen Seite der Medaille gibt es rege Debatten über die negativen Folgen der digitalen Mediatisierung politischer Beteiligung: Die Verstärkung von bestehenden Ungleichheiten (Oser/Boulianne 2020), die Ausweitung von Überwachung, hate speech in sozialen Netzwerken, oder die verstärkte Abhängigkeit von digitalen Infrastrukturen sowie die damit verbundene neue Verletzbarkeit gegenüber autoritären Interventionen (Freudenschuß 2017) sind nur einige Facetten, die den ambivalenten Charakter digitaler Medien ausmachen (Knopp 2020). Nicht zuletzt ist die Digitalisierung daher auch politisches Thema sozialer Bewegungen, wie die Proteste gegen Vorratsdatenspeicherung bereits früh gezeigt haben. In der Coronakrise machten der Chaos Computer Club und andere Netzaktivist*innen mit der scharfen Kritik an den Überwachungspotentialen und Sicherheitslücken der staatlichen Corona-Apps von sich reden.

Doch was bedeutet dieses Gewicht der digitalen Medien für jene engagierte Protest- und Bewegungsforschung, die sich für eine gesellschaftliche Demokratisierung und damit auch für ein anerkennendes Verständnis von Protest und sozialen Bewegungen einsetzt?[1] Reicht es noch, die Wirkung digitaler Technologien zu beschreiben und zu analysieren, oder muss die Protest- und Bewegungsforschung in Designprozessen digitaler Medientechnologien mitwirken, ihre Expertise Technologieentwickler*innen zur Verfügung stellen oder selbst Medientechnologien mitentwerfen? Und wenn wir diese letzte Frage mit ja beantworten, welche Position beziehen Forschende in diesem Prozess? Sind wir pro oder contra oder doch wieder „zwischen allen Stühlen“ (Ullrich/Teune 2019)? Was heißt Kritik und allying im Kontext von Design überhaupt, an wen richtet sich diese Kritik? Und wenn wir uns einmischen, welche Kompetenzen steuert die Protest- und Bewegungsforschung bei? Zunächst aber zum Status Quo der digitalen Protestkulturen.

Sozial bewegtes Mediendesign

Protestkulturen manövrieren im digitalen Hindernislauf aus Möglichkeiten, Unebenheiten und Barrieren. Intrinsischer Bestandteil und prägender Faktor dieser Reise ohne erkennbares Ende sind Sicherheitskulturen, die die verschiedenen Protestformen absichern und damit für die Beteiligten ein hinnehmbares Maß an Handlungssicherheit schaffen (Knopp/Ullrich 2019; Ullrich/Knopp 2018). Daher ist es auch kaum verwunderlich, dass verschiedene Protestspektren selbst aktiv werden und eigene Medientechnologien herstellen, die auf ihre spezifischen Anforderungen materielle Antworten geben (sollen). Neben den technologischen Avantgardebewegungen des hacktivism (Gunkel 2005) besitzen insbesondere größere Protestbewegungen die nötigen Fähigkeiten und die Wirkmacht, Technologien nicht nur zu entwerfen und zu programmieren, sondern sie auch in den eigenen Milieus und darüber hinaus zu verbreiten. Als Erfolgsbeispiel dafür lässt sich die Partizipationsplattform decidim.org verstehen, die zunächst versuchte, die Platzbesetzungen der spanischen 15M-Bewegung und ihre Entscheidungsstrukturen in digitales Material zu übersetzen. Die open-source Plattform sollte die partizipativen Prozesse und die auf horizontale Beteiligungsstrukturen ausgerichteten Regeln der asambleas technisch abbilden und so demokratische Entscheidungsfindung und Organisierung über den lokalen Kontext der Plätze hinaus verstetigen. Mittlerweile umfasst die Plattform verschiedenste Organisierungswerkzeuge und wird offiziell von einigen europäischen Großstädten anerkannt und als digitale Unterstützung der bürgerschaftlichen Partizipation genutzt.

Während die Arbeit sozialer Bewegungen in Design und Herstellung digitaler Technologien zunehmend beforscht wird und der Blick für die Ambivalenzen digitaler Medien wacher wurde (Knopp 2020; Freudenschuß 2015; Grimm et al. 2018), hat die Protest- und  Bewegungsforschung selten den Schritt in das Medien- und Technologiedesign gewagt (Bosk et al. 2018). In unserem Forschungsprojekt „Digitale Infrastrukturen der Partizipation in Wien“ (kurz: DIP) machten wir in den letzten Monaten erste Gehversuche[2] in diese Richtung – mit Menschen, die für die kritische Wiener Wohnungslosenzeitung Augustin arbeiten, bei Fridays for Future aktiv sind bzw. sich beim lokalen Ableger des Chaos Computer Clubs (C3W) engagieren. Das Projekt zielt darauf ab, mit diesen auf je unterschiedliche Weise marginalisierten Gruppen Ansatzpunkte für die Umsetzung eines „digitalen Humanismus“[3] zu suchen und soziale wie technische Designprinzipien zu erarbeiten. Diese Aufgabe stellt notwendigerweise die Frage nach dem normativen Standpunkt der Forscher*innen.

Wo wir stehen: Digitalisierung für den Menschen und Demokratisierung der Gesellschaft

Design ist eine grundlegend normative Praxis, weil es die Zukunft des Lebens, der Arbeit und auch des Protests prägt. Dazu werden gewünschte Zustände imaginiert und Medien dahingehend hergestellt. Design von Medien und Technik hat also umfangreiche Auswirkungen auf die Formen politischen Engagements – oder eben nicht, weil die betreffende Medientechnologie von ihren potenziellen Nutzer*innen schlicht beiseitegelegt und nicht angewandt wird.

Digitale Medien legen bestimmte Gebrauchsweisen in Protestformen nahe, eröffnen neue Wege und erschweren andere. Manches Verhalten wird von den Medien gar unterbunden. Die Handlungsprogramme der Plattformen regeln beispielsweise, wer welche Beiträge anderer zu sehen bekommt, wer sie kontrollieren kann und wer sie verändern oder gar löschen kann. Unsere Untersuchungen zeigten, dass die Regulierung von Sichtbarkeit in der Koordination und Organisierung von Protestpraktiken eine entscheidende Rolle spielt. Sichtbarkeit steht jedoch in einem Spannungsverhältnis mit den Zeitbudgets der Engagierten. Die Medieninfrastrukturen des Chaos Computer Clubs Wien sind etwa auf umfassende Transparenz und breite Sichtbarkeit von Beiträgen der Engagierten füreinander ausgelegt. Die Quantität und Dichte der Kommunikation – insbesondere in Hochphasen des Engagements, in denen in öffentliche Debatten interveniert werden soll – führt aber zum Problem, dass Partizipation einen teils enormen Zeitaufwand und kurzfristige Verfügbarkeit erfordert, um über die Aktivitäten der Gruppierung informiert zu bleiben und daran wirksam teilnehmen zu können. Dies begünstigt das Auftreten von Ungleichheiten und informellen Hierarchien aufgrund der individuell verfügbaren Zeitbudgets, die an bestehende soziale Ungleichheiten anschließen (Verteilung von Care-Arbeit, Arbeitszeiten, staatliche Regulierung des Lebens von Migrant*innen etc.). Bei Fridays for Future Wien besteht eine ähnliche Problematik. Die für die interne Kommunikation genutzte, kommerzielle Work-Flow-Plattform zielt auf unmittelbare Aktivierung der Nutzer*innen in Arbeitsprozessen durch push-Nachrichten. Da Engagement in sozialen Bewegungen aber im Gegensatz zu sog. Normalarbeitsverhältnissen keine fixierten zeitlichen Begrenzungen aufweist, dringt das Engagement vermittelt über Smartphones und andere tragbare devices in andere Lebensbereiche ein. Diese Entgrenzung wird von Engagierten teilweise als invasiv empfunden, befördert Überlastungsprobleme und belastet mithin familiale und freundschaftliche Sozialbeziehungen der Engagierten.

Es ist also nicht belanglos, wie Medientechnologien gemacht sind und wie diese im Verhältnis zu ihrem sozialen Umfeld stehen. Wenn Protestforscher*innen Teil des Designprozesses werden, etwa in der Definition von zu bearbeitenden Problemen, dann stellt sich die Frage, was der normative Bezugspunkt dieser Arbeit ist: Sehen wir uns als neutrale Verlängerungen von Bedürfnissen der Protestierenden jedweder couleur, oder entwickeln wir im Dialog eigene Blickwinkel?

Wir haben uns für die zweite Option entscheiden, weil die erste in sich unmöglich ist, da sie auf einer basalen Ebene die unhintergehbare Subjektivität von Forschenden und Designer*innen negiert,[4] aber auch, weil sich aus der zweiten Position eine Designpraxis (weiter-)entwickeln lässt, die im Sinne einer Demokratisierung von Partizipationsformen operiert. Demokratisierung von digitalen Medien setzt eine Irritation der Routinen der Organisierungs-, Mobilisierungs- und Koordinierungsarbeit voraus, die Ungleichheiten verschärfen oder hervorbringen. Irritation bedeutet dabei, im Designprozess auf die vielgestaltigen Wirkungen bestimmter Medienpraktiken hinzuweisen. Das Design Game, wie wir es in unserer Forschung anwenden, ist eine Möglichkeit der Konfrontation und Sichtbarmachung solcher Routinen und ihrer Wirkungen auf die Partizipation. Dabei bringen wir die unterschiedlichen Gruppen (Wohnungslose, Klima- und Netzaktivist*innen) an einen Tisch und lassen sie gemeinsam spielerische Aufgaben lösen, die dem Alltag der Engagierten nahekommen. Bereits die Zusammensetzung der Teilnehmer*innen und die unterschiedlichen kulturellen Herangehensweisen sollen dabei einerseits eine Reflexion von Routinen bewirken und andererseits gemeinsame Wege mit diesen Problemen umzugehen hervorbringen.

Eine wichtige Inspirationsquelle für diese Grundhaltung der Irritation (vgl. dazu auch Bauman 2001: 294–318) war für uns die politische Philosophie Hannah Arendts. Diese verbindet sich mit einer kritischen Perspektive auf dominante Digitalisierungsprozesse unserer Zeit. In den letzten Jahren wurde die digitale Entwicklung zunehmend von einer Melange aus Überwachung, Datenexpropriation und Profitorientierung vorangetrieben. Mit der forcierten Monopolisierung wichtiger Segmente des Digitalmarktes geht auch eine Erzählung über den Menschen einher, bei der die Lösung sozialer Probleme den eigentlichen Problemen vorangeht. Menschen werden in der Erfolgserzählung der Digitalisierung nicht mehr als legitime Träger*innen von Bedürfnissen gegenüber Sozialwelt und Technik betrachtet, sondern als Trägheitsmomente, die von der Digitalisierung längst überholt wurden und diese nun unbotmäßig ausbremsen. „Die Technik könnte natürlich vielmehr“ ist nicht nur eine vielfach referenzierte Marketingstrategie, um die Leistungsfähigkeit von Digitalware zu bewerben, sondern eine problematische Umkehrung des Verhältnisses von Mensch und Technik, die eine Abkopplung der profitorientierten Technologieentwicklung von historisch-spezifischen Bedürfnissen ermöglicht. Wir dürfen also in den meisten Fällen den ipb-Kollegen Daniel Staemmler und Mark Fielitz zustimmen: Digitale und „soziale Medien sind nicht für Proteste ausgelegt“ (Bovermann 2020).

Wenn nun aber sowohl eine eigenlogische Abkopplung als auch Neutralitätsschimären zu verwerfen sind, dann wird deutlich, dass sich jede Designpraxis über ihre normativen Grundlagen verständigen muss. Welchen Standpunkt kann also ein kritisch-humanistisches Mediendesign einnehmen? Humanismus bzw. die Möglichkeit Mensch-zu-sein ist für Arendt (2016 [1960]) in der „vita activa“ dann gegeben, wenn die Individuen an den Sachen des Gemeinwesens teilnehmen und teilhaben können. Nur in diesem Sinne und nur in den Aushandlungsprozessen mit Anderen entfalten Menschen eine Subjektivität, die es ihnen erlaubt, über ihre Lebensbedingungen, Ziele und Wünsche gemeinsam zu entscheiden. Die Sichtbarkeit der Belange des Anderen ist eine grundlegende Bedingung des politischen Engagements als Freie und Gleiche. Das demokratische Moment des politischen Handelns ist dabei nicht etwa ein fauler Kompromiss, sondern das Recht auf Dissens (Rancière 1999), über das Gemeinsame zu streiten und zu verhandeln. Wenn kritisch-humanistische Designpraxis als Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten zur Partizipation an den öffentlichen Belangen beitragen will, muss sie sich damit auch als wirkliche, weil wirkende Teilnehmerin in der sozialen Welt ansehen und damit selbst streitbar sein. Für Designpraktiken heißt das, Teilhabeformen in sozialen Bewegungen nicht als gegeben, sondern als gemacht und damit im Sinne einer Demokratisierung als offen und modellierbar zu erachten. Die (engagierte) Protest- und Bewegungsforschung hat damit die Aufgabe, Marginalisierungen und Barrieren in sozialen Bewegungen und in Designprozessen zu problematisieren und sichtbar zu machen.

Der Platz der Protest- und Bewegungsforschung in Designprozessen

Wie deutlich wurde, plädieren wir für eine Teilnahme der Protest- und Bewegungsforschung an Designprozessen mit einer eigenständigen normativen Positionierung, die den Raum der Teilhabe erweitern will und sich damit weder den Interessen politischer Akteur*innen unterwirft, noch eine Abkopplung von der Praxis der sozialen Bewegungen vollzieht. Damit wird die Frage nach der Rolle einer sozialwissenschaftlichen Protest- und Bewegungsforschung in diesem Kontext berührt – welchen Platz nimmt sie ein? Wer nicht auf den weiter oben angesprochenen Stühlen Platz nehmen will, hat keine einfache Wahl. Denn kritisch-humanistisches Design kann weder bestehende Teilhabeformen lediglich technisch abbilden, noch aus einer abgekoppelten Position heraus digitale Fiktionen bauen. Es ginge in diesem Sinne darum, eine spanungsgeladene und spannende (!) Vermittlungsposition einzunehmen. Dieses Spannungsverhältnis kann zunächst durch wechselseitige und im Design materialisierte Irritation produktiv gemacht werden. Eine strategische Fragerichtung könnte sein: Welche Forderungen an die digitale Medienpraxis stellt die Demokratisierungsperspektive und auf welche praktischen Hindernisse stößt sie dabei? Dies dient letztlich der Entwicklung von den Bewegungsakteur*innen selbst kommenden Anstöße zu möglicherweise digital vermittelten demokratisierenden Partizipationsformen.

Gleichermaßen hat die Bewegungsforschung komplexe Theorie- und Verallgemeinerungsstrategien zu bieten, die es ihr auch in Designprozessen erlauben, Partizipationsformen auf Demokratisierungspotentiale und -grenzen hin zu befragen. Ihre methodisch geleiteten Reflexionsprozesse erlauben dabei auch einen Zugang zu Erfordernissen, die Aktivist*innen nicht notwendig jederzeit bewusst sein müssen. In unserer Forschung begegnete uns etwa an mehreren Stellen, dass die expliziten Teilnahmebedingungen der untersuchten Bewegungsorganisationen als intrinsisches „Interesse“ definiert wurden, während sich in weiteren Ausführungen aber weitere und teils sehr hohe Anforderungen auftun, um kompetent teilzunehmen. Dies umfasst unter anderem – wie oben angedeutet – die zeitliche Verfügbarkeit (Synchronisierung mit Themen und Entscheidungen entgrenzen sich), Gebrauchswissen im Umgang mit digitalen Plattformen und Sicherheitstools (etwa zur Nutzung sicherer clients) oder auch den Mut, sich politischen Gegner*innen mehr oder minder identifizierbar gegenüberzustellen (und damit etwas zu riskieren). Auf all diese impliziten Anforderungen, d.h. die Bandbreite oftmals stillschweigend artikulierter Anforderungen der Partizipation kann die Bewegungsforschung hinweisen und ihre gruppenspezifischen Ausprägungen (für den C3W gelten z.B. andere Anforderungen an die zeitliche Verfügbarkeit als für den Augustin etc.) herausarbeiten.

Ferner liegt eine Kompetenz der Bewegungsforschung darin, die Spannungsverhältnisse zwischen politischen Möglichkeitsfenstern, verschieden gelagerten und mit sozialen Ungleichheiten verbundenen Alltagsbeziehungen und -problemen, und den Organisierungsprozessen, die das Engagement bestimmter Protestgruppen durchziehen, zu abstrahieren und mit anderen Bewegungen vergleichbar zu machen. Dabei kann sie die partikularen Problemstellungen miteinander in Bezug setzen und entsprechend technologische Bearbeitungsversuche informieren, die über singuläre Lösungen hinausgehen. Denn geteilte digitale Medien können als Infrastrukturen des Gemeinsamen auch die Zusammenarbeit unterschiedlicher Gruppen erleichtern und befördern. Nicht zuletzt ist hier aber auch das Selbstbewusstsein der Sozialwissenschaften gefragt, das darin besteht, klar und deutlich herauszustellen, dass Medien- und bloße Technik soziale Probleme nicht zu lösen vermag, sondern vorrangig dazu dienen kann, diese Probleme sie zu überbrücken. Sie muss also weiterhin insistieren, dass soziale Probleme als Anliegen dem Gemeinwesen sichtbar gemacht werden müssen. Und so gerät die Protest- und Bewegungsforschung ein letztes Mal zwischen die Stühle, wenn sie bewusst darauf beharrt, dass soziale Probleme sozialer Lösungen bedürfen und keiner technological shortcuts. Eine so verstandene kritische Designpraxis kann dann die Impulse gelebter Beteiligungspraxis in sozialen Bewegungen aufnehmen und die Verbreitung demokratiefördernder Medien befördern.

 

Philipp Knopp, Dipl.-Soz., ist Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) und arbeitet als Universitätsassistent am Institut für Soziologie der Universität Wien. Er forscht zu Überwachung und digitalen Medien in sozialen Bewegungen, zur Polizei und zu den Interaktionen zwischen Protest und Polizei. Kontakt: philipp.knopp@univie.ac.at.

Peter Fikar, DI, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Digitale Infrastrukturen der Partizipation“ am Institut für Soziologie der Universität Wien und Doktorand an der Fakultät Informatik der Technischen Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Human-Computer Interaction, User Centered Design, Interaction Design und Tangible User Interfaces. Kontakt: peter.fikar@univie.ac.at

Tereza Maletz, BA, ist Masterandin und Projektmitarbeiterin im Projekt „Digitale Infrastrukturen der Partizipation“ am Institut für Soziologie der Universität Wien. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich sozialer Ungleichheitsforschung und der Kultursoziologie. Kontakt: tereza.maletz@univie.ac.at

Tilo Grenz, Dr. phil., ist Universitätsassistent am Institut für Soziologie der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen bei der wissenssoziologischen Mediatisierungsforschung und Organisationssoziologie, Soziologie der Digitalisierung, Cybersecurity und digitale Risiken, Kommunikativen Wissenskulturen und prozessorientierten Forschungsmethoden. Kontakt: tilo.grenz@univie.ac.at


[1] Vgl. für eine ähnlich gelagerte Fragestellung Zajak (2018) in dieser Rubrik.

[2] Ziel des Forschungsprojekts ist es zunächst gemeinsam mit Mediendesigner*innen die Anforderungen und spezifischen Problemstellungen unterschiedlicher Engagementformen und Akteur*innen im Gebrauch digitaler Medien herauszuarbeiten. Auf dieser Basis können im Weiteren die konkrete materielle Gestaltung digitaler Medien bzw. die Programmierung von Software aufbauen. Die Studie umfasst teilnehmende Beobachtungen zu feldzentralen sites und practices (z.B. Hackerspaces, Team-Meetings und Redaktionssitzungen), Feld-Interviews und Gruppendiskussion mit den drei Gruppen. In einem letzten Schritt fließen die Erkenntnisse aus diesen Forschungsphasen in ein Design Game ein, mit dem bestimmte Kommunikations- und Organisierungsprozesse mit Engagierten erprobt werden. Design wird damit in alltagsweltlichen Prozessen der aktiven Aneignung verankert (Moran 2002).

[3] Das Label soll die Digitalisierungsstrategie der Stadt Wien prägen und geht auf eine Initiative von Informatiker*innen und Designer*innen zurück, vgl. Werthner et al. 2019.

[4] Wir beziehen uns hier u.a. auf intensiv geführte Debatten zur Reflexivität der Feldforschung, insofern ebendiese Form der empirischen Forschung erst durch das Im-Feld-Sein, die Erwägungen und interpretativen Schritte der Verschriftlichung ermöglicht wird.

Literatur

Arendt, Hannah 2016 [1960]: Vita activa oder vom tätigen Leben. Piper.

Bauman, Zygmunt 2001: Vom Nutzen der Soziologie. Suhrkamp.

Bovermann, Philipp 2020: Soziale Medien sind nicht für Proteste ausgelegt. 17. August 2020, www.sueddeutsche.de

Bosk, Daniel, Guillermo Rodriguez-Cano/Benjamin Greschbach/Sonja Buchegger 2018: Applying Privacy-enhancing Technologies. One Alternative Future for Protests. In: Melgaço, Lucas/Monaghan, Jeffrey (Hg.): Protests in the Information Age. Social Movements, Digital Practices and Surveillance. Routledge, 73–94.

Freudenschuß, Magdalena 2015: Paradoxe Dynamik. Aktivismus zwischen Anonymität und Sichtbarkeit. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 28(3), 55–62.

Freudenschuß, Magdalena 2017: Infrastrukturen der Un/Sichtbarkeit navigieren? Zur aktivistischen Bearbeitung von Verletzbarkeiten. In: Thomas, Tanja/Brink, Lina/Grittmann, Elke/de Wolff, Kaya (Hg.): Anerkennung und Sichtbarkeit. transcript, 185–199.

Grimm, Maren/Leistert, Oliver/Keil, Siri 2018: Die Formatfrage stellen. Das alternative Medienzentrum FC/MC zum G20-Gipfel (im Gespräch mit Ulrike Bergermann). In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 10(1), 111-129.

Gunkel, David J. 2005: Editorial. Introduction to Hacking and Hacktivism. In: New Media & Society 7(5), 595–97.

Kannengießer, Sigrid 2014: Translokale Ermächtigungskommunikation. Medien, Globalisierung, Frauenorganisationen. VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Knopp, Philipp 2020, im Erscheinen: Zwischen Ermächtigung und Überwachung. In: Protestkulturen in mediatisierten Öffentlichkeiten.

Knopp, Philipp/Ullrich, Peter 2019: Abschreckung im Konjunktiv. Macht- und Subjektivierungseffekte von Videoüberwachung auf Demonstrationen. In: Berliner Journal für Soziologie 29(1-2), 61–92.

Moran, Thomas 2002: Everyday Adaptive Design. In: Association for Computing Machinery (Hg.): Proceedings of the 4th Conference on Designing Interactive Systems. Processes, Practices, Methods, and Techniques, 13–14.

Oser, Jennifer/Boulianne, Shelley 2020: Reinforcement Effects between Digital Media Use and Political Participation. A Meta-Analysis of Repeated-Wave Panel Data. In: Public Opinion Quarterly 84(1), 355–365.

Rancière, Jacques 1999: Disagreement. Politics and Philosophy. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Schön, Donald A. 1984: The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action. Basic books.

Ullrich, Peter/Knopp, Philipp 2018: Protesters’ Reactions to Video Surveillance of Demonstrations: Counter-Moves, Security Cultures, and the Spiral of Surveillance and Counter-Surveillance. In: Surveillance & Society 16(2), 183–202.

Ullrich, Peter/Teune, Simon 2019: Protestforschung zwischen allen Stühlen. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 32(1), 29–40.

Werthner, Hannes et al. 2019: Wiener Manifest für digitalen Humanismus. dighum.ec.tuwien.ac.at

Zajak, Sabrina 2018: Engagiert, politisch, präfigurativ. Das Selbstexperiment als transformative Bewegungsforschung. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 31(4), 98–105.

 

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