Die Diskussion über Online-Petitionen zeigt die Angst professioneller Kommentatoren vor dem eigenen Bedeutungsverlust
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Zwei Online-Petitionen machen zurzeit Furore. Die eine richtet sich gegen den neuen Bildungsplan der baden-württembergischen Landesregierung. Knapp 200.000 Menschen haben die Petition gezeichnet, die in den Leitlinien für den Schulunterricht „die Ideologie des Regenbogens“ wittert und den offenen Umgang mit sexueller Vielfalt an Schulen verhindern will. Die andere Petition entstand in Reaktion auf ein tendenziöses Interview des ZDF-Talkers Markus Lanz mit der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht. 230.000 Petenten haben sich dafür ausgesprochen, den Moderator nach einer journalistischen Fehlleistung abzusetzen.
Beide Petitionen zogen die Aufmerksamkeit professioneller Medienmacher auf sich. Aber nur die Unterschriftensammlung an den Arbeitgeber von Markus Lanz weckte den Furor journalistischer Beobachter. Mittlerweile überschlagen sich die Kommentatoren etablierter Medien. „Was sich als direkte Demokratie geriert“, ist in der Süddeutschen Zeitung zu lesen, „ist nicht viel mehr als eine Kundenbewertung.“ Die Kritiker erkennen in der Petition die Haltung der „Lynchjustiz“ (Welt) und eine „Steinigungs- und Verwünschungskultur“, die in der Zeit gar mit dem Boykott jüdischer Geschäfte im Nationalsozialismus verglichen wird.
Zwei Aspekte diskreditieren in den Augen der Kritiker die Online-Petition: die Möglichkeit, Petitionen nicht öffentlich zu zeichnen und der geringe Aufwand, mit dem man sich beteiligen kann. Gebetsmühlenartig werden beide Argumente in den Kommentarspalten variiert. Dass die Anonymität bei Petitionen eher die Ausnahme ist, trübt den Unmut nicht. Zuweilen gipfelt die Kritik in einer schrägen Anrufung der Vergangenheit. So glaubt Josef Joffe als Kommentator für die Zeit, das Tippen auf der „klappernden Olympia“ hätte früher das Mütchen des Leserbriefschreibers gekühlt, während der Klick heute kaum mehr als eine schnelle Triebabfuhr sei.
Deutlich schwerer wiegt der Einwand, dass Petitionen gegen Personen an sich ein Problem sind. Es ist sicher nicht wünschenswert, dass sich der Frust über schlechten Journalismus an einem Einzelnen entlädt. Aber diese einfache Differenzierung findet man nur selten. Statt dessen trifft der Bannstrahl die Online-Petition als solche. Warum aber eine unmittelbare Meinungsäußerung, die ohne großen Aufwand öffentlich gemacht werden kann, verwerflich sein soll, ist nicht nachvollziehbar.
Diese heftige und offensichtlich maßlose Reaktion auf eine doch relativ harmlose kollektive Intervention ist erstaunlich. Woher kommt dieses Ressentiment gegen eine massenhafte Meinungsäußerung? Wieso erscheint den Kommentatoren die eine Petition als „das hässliche Gesicht der Netzdemokratie“ (Welt), während die Diskussion zu der anderen überaus nüchtern bleibt? Ein Grund dafür liegt in dem Demokratieverständnis der Petitionskritiker und in der Wahrnehmung der eigenen Rolle.
Zunächst legt der Begriff der Online-Petition ein Missverständnis nahe. Er ist abgeleitet von einer Beteiligungsform der repräsentativen Demokratie, die bis in feudale Zeiten zurück reicht. Petitionen sind Eingaben an gewählte Vertreter oder zuständige Stellen, denen eine konkrete Entscheidung nahegelegt wird. Die Bittschreiben haben sogar Verfassungsrang. In Artikel 17 des Grundgesetzes heißt es: „Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.“ Den Empfängern der Petition, ob Feudalherr, Behörde oder Petitionsausschuss, bleibt derweil überlassen, wie sie mit der Eingabe umgehen. Dieses Verständnis einer Petition ist die Folie, vor der die Kommentatoren ihre Kritik entwickeln.
Zwar folgt ein Teil der Online-Petitionen diesem Muster. Zu ihnen gehört die Initiative gegen den baden-württembergischen Bildungsplan. Hier wird an das Parlament appelliert, die vorgebrachte Kritik ernst zu nehmen. Petitionen sind aber darüber hinaus ein demonstrativer Akt. Die Unterstützung einer Petition soll die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf einen Missstand lenken und Entscheidungsträger indirekt unter Druck setzen. Das unterscheidet sie nicht von den früher üblichen Unterschriftensammlungen. Ein Teil der Online-Petitionen hat aber ausschließlich diese Stoßrichtung. Einige erreichen den angegebenen Adressaten nie auf direktem Weg. Die Petition an das ZDF folgt dieser Logik des öffentlich sichtbaren Aufschreis. Kaum einer der Petenten dürfte damit rechnen, dass Markus Lanz auf Grund seiner Unterschrift aufs Altenteil gesetzt wird. Die Petition ist aber eine öffentlichkeitswirksame Möglichkeit, den Unmut über den Umgang mit einer abweichenden Meinung auszudrücken.
Die Aufregung über die Lanz-Petition beruht auf dem Missverständnis, eine Online-Petition müsse beim Appell verharren, um als Form der „Netzdemokratie“ durchzugehen. Die Unterzeichnenden geben aber die Entscheidung nicht an die Zuständigen ab, sondern sie tragen ihre Empörung unbotmäßig in die Öffentlichkeit. Die Seitenstatistiken zeigen, dass die Resonanz in den etablierten Medien dabei eine wesentliche Rolle spielt. Die Anmaßung, sich öffentlich zu Wort zu melden, anstatt es bei der Eingabe zu belassen, wird von den Kritikern wahlweise zu einer verkommenen Form direkter Demokratie erklärt oder, weil dabei die Person Markus Lanz im Mittelpunkt steht, als shitstorm delegitimiert.
Der Furor der Kommentarspalten bringt die Angst professioneller Meinungsmacher vor dem eigenen Bedeutungsverlust zum Ausdruck. Es erscheint anachronistisch, wenn die Kommentatoren als Repräsentanten der vierten Gewalt und damit als einzig legitimer Teil eines Systems von checks and balances auftreten; zumal es in diesem Fall um Kritik an der eigenen Zunft geht. Die Kommentatoren gerieren sich als autoritative Erklärer politischer Vorgänge. Dieses korporative Verständnis von Meinungsbildung wird durch Petitionen wie der an das ZDF in Frage gestellt. In der Zeit liest man: „Es ist nicht einfach, Markus Lanz zu verteidigen, aber allzu einfach, Markus Lanz zu verurteilen.“ Der Angriff auf den Kollegen Lanz scheint auch ein Angriff auf die Position der Kommentatoren zu sein. Diese unkontrollierbare Einflussnahme löst Angst vor dem aus, was der damalige FDP-Generalsekretär Patrick Döring mit Bezug auf den Erfolg der Piratenpartei als die „Tyrannei der Masse“ bezeichnete.
Online-Petitionen sind Ausdruck einer fluider gewordenen Meinungsbildung. Was früher stark durch Großorganisationen wie Verbände und Parteien, aber eben auch durch Kommentare in den kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Massenmedien kanalisiert wurde, ist heute eher das Ergebnis individualisierter Bewertungen. Das heißt nicht, dass hier die vereinzelte Erregung über ein verhunztes Fernsehinterview zusammenliefe. Auch bei der Entscheidung, sich an einer Petition zu beteiligen, spielen dauerhafte Netzwerke eine Rolle, aber sie sind stärker personalisiert und weniger „von oben“, durch eine Verlautbarung des Vorstands oder durch den Leitartikel des Chefredakteurs beeinflusst. So wie einst das Kneipengespräch, ist heute das Teilen und Kommentieren von Links in sozialen Netzwerken alltäglicher Bestandteil der Meinungsbildung. Das verändert die öffentliche Diskussion, aber es ist nicht der Untergang des Abendlandes.
Mittlerweile hat die Plattform OpenPetition, auf denen beide Petitionen gezeichnet werden können, ihre Nutzungsbedingungen präzisiert, um Petitionen, die Personen kritisieren, auszuschließen. Das sollte die Diskussion entschärfen. Die Betreiber sehen aber in der Lanz-Petition einen Appell an die Einhaltung journalistischer Qualitätsstandards.