Auf unserem Blog stellen wir in unregelmäßigen Abständen Buchpublikationen von ipb-Mitgliedern vor. Die verlinkte Liste der bereits besprochenen Bücher befindet sich am Ende des Beitrags. Es folgt Tanita Jill Pöggel (Berlin) mit einer Rezension von Steinhilper, Elias 2021: Migrant Protest: Interactive Dynamics in Precarious Mobilizations (Amsterdam University Press). Die Rezension erschien ursprünglich unter dem Titel „Allen Widrigkeiten zum Trotz: Prekäre Migration und Protest“ in Heft 1/2021 des Forschungsjournals Soziale Bewegungen.
Wie wir das Aufkommen und die Verläufe prekärer migrantischer Proteste verstehen können, ist die Ausgangsfrage von Migrant Protest: Interactive Dynamics in Precarious Mobilizations. Elias Steinhilper nimmt sich somit einer in der aktuellen Migrations- und Bewegungsforschung weiterhin unterbeleuchteten Frage an. Zu ihrer Beantwortung legt der Autor eine vergleichende Analyse von vier Protestmomenten in Paris und Berlin vor, mit der es ihm anhand von dichten Beschreibungen gelingt, ein komplexes Bild der unterschiedlichen Perspektiven, Wünsche und Forderungen, aber auch der Probleme und Konflikte der beteiligten Akteure zu zeichnen. Die zugrundeliegende an Jasper orientierte theoretische Grundperspektive, der zufolge ‚players‘ – also die heterogene Bandbreite an Protestakteuren – vor der Herausforderung stehen, im Rahmen von breiteren ‚arenas‘ miteinander zu interagieren, ermöglicht dem Autor sowohl strukturell determinierte Handlungsspielräume und Problemlagen als auch individuelle Handlungen und situative Interpretationen ausgeglichen zu gewichten. Der Fokus liegt dabei vorrangig auf prekärer und ‚irregulärer‘ Migration – also auf jenen Personengruppen, deren (aufenthalts-)rechtliche Situation unsicher ist. Somit schließt das Verständnis sowohl Asylbewerber*innen als auch undokumentierte sowie rechtlich geduldete Migrant*innen ein.
Context matters
Nach dem einleitenden Problemaufriss und der theoretischen Einbettung, werden in einem Kontextkapitel die spezifischen rechtlich-politischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Proteste in Frankreich und Deutschland sowie die damit einhergehenden Vorläufer an selbst-organisierten und unterstützenden Protesten von und für Migrant*innen eingeführt und verglichen. Der Autor arbeitet hier wichtige Differenzen heraus ohne übergeordnete Tendenzen, die beiden Kontexten zugrunde liegen, aus den Augen zu verlieren. So zeigt er auf, wie in der Nachkriegsperiode beider Länder ähnliche Migrationsgeschichten in unterschiedlicher Art und Weise politisiert wurden: Während irreguläre Migration in Frankreich vorrangig als undokumentierte Migration problematisiert worden ist, hat sich die öffentliche Diskussion in Deutschland vor allem auf asylrechtliche und -politische Fragen konzentriert. Neben diesen unterschiedlichen Formen der Politisierung in der mehrheitsgesellschaftlichen Öffentlichkeit unterscheidet der Autor zudem zwischen zwei Formen des Migrationskontrollregimes, die jeweils unterschiedlich auf Möglichkeiten des (selbstorganisierten) Widerstands eingewirkt haben. Da das französische Regime durch das Fehlen einer Grundsicherung über das Asylsystem bei gleichzeitig größerer Offenheit des Arbeitsmarktes charakterisiert ist, hat die Mobilisierung prekärer Migrant*innen in der Regel nicht im Rahmen des Asylsystems stattgefunden und sich nicht primär auf dieses bezogen. Die größeren Handlungsspielräume in diesem Kontext haben zudem zu einer breiteren und langlebigeren Bewegung geführt, im Rahmen derer sich auch selbstorganisierte Gruppen institutionalisieren konnten. In Deutschland drängen stärkere Kontrollmechanismen prekäre Migrant*innen in das Asylsystem, welches in der Vergangenheit folglich auch im Zentrum der Kritik stand und zugleich durch seine starke Regulation den Handlungsspielraum für Protest stark einschränkt hat. Insgesamt gelingt dem Autor eine detailreiche und zielführende Kontextualisierung der in den späteren Kapiteln betrachteten Proteste. Ein noch stärkerer Rückbezug auf die hier entwickelten Argumente im weiteren Verlauf der Arbeit wäre begrüßenswert.
Besetzung des urbanen Raums in Paris und Berlin
In insgesamt vier Kapiteln werden jeweils zwei Protestbewegungen in Paris und Berlin zwischen 2008 und 2017 näher beleuchtet. Diese Fallstudien sind das Herzstück des Buches und liefern ein komplexes Verständnis der Herausforderungen politischer Selbstorganisierung unter prekären Lebens- und Handlungsbedingungen.
Zunächst betrachtet der Autor die ‚Bourse du Travail‘-Proteste, die 2008 mit der Besetzung der CGT-Gewerkschaftszentrale durch drei sans-papiers-Kollektive begannen und 2010 mit der Auflösung der Besetzung eines leerstehenden Gebäudes im Norden der Stadt endeten. Dies ist insofern ein höchst interessantes und lehrreiches Beispiel als dass hier eben nicht die repressive staatliche Politik selbst, sondern der Konflikt um die Repräsentation der Betroffenen im Zentrum der Proteste stand. Im Detail untersucht der Autor die komplexen Konfliktlinien, die sich innerhalb der Bewegung für die Rechte der Migrant*innen auftaten, und verdeutlicht somit die Fragilität der Allianzen, die vor dem Hintergrund heterogener Zielvorstellungen und hierarchisierter Sprechpositionen immer wieder neu ausgehandelt werden mussten. Dabei verdeutlicht dieses Beispiel, dass es in der Aushandlung um die Repräsentation nicht ‚nur‘ um inhaltliche und strategische Fragen geht, sondern auch um die Anerkennung der Betroffenen als relativ autonom handelnde politische Subjekte.
Diese Ambivalenz arbeitet der Autor auch in Bezug auf die ‚La Chapelle‘-Proteste in Paris 2015/2016 heraus, bei denen verschiedene Gruppen prekärer und größtenteils obdachloser Migrant*innen den Versuch unternahmen, über provisorische Notlager im Pariser Stadtzentrum auf sich aufmerksam zu machen und in diesem Zuge die eigene Situation von einer humanitären in eine politische Frage umzudeuten. Ermöglicht wurde dies durch die Schaffung (temporärer) autonomer Räume, in denen die Beteiligten – wenn auch unter sehr fragilen Bedingungen – als politische Subjekte zusammenkommen und sich gegen ihre Exklusion zur Wehr setzen konnten. Eben diese Rolle des Raumes betont der Autor auch in seiner Darstellung und Analyse der Proteste von Asylbewerber*innen am und um den Oranienplatz in Berlin im Zeitraum zwischen 2012 und 2014. Dass diese selbstorganisierten Proteste eine außergewöhnlich breite mediale Aufmerksamkeit und gesellschaftliche Unterstützung erhalten haben, führt der Autor nicht zuletzt darauf zurück, dass mit der Besetzung des zentralen urbanen Raums – zuerst in Würzburg und dann in Berlin – die Isolation in den zumeist peripheren Lagereinrichtungen für Asylbewerber*innen zeitweise durchbrochen werden konnte.
Im vierten Kapitel geht der Autor auf die Proteste afghanischer Asylbewerber*innen und Aktivist*innen der afghanischen Exil-Community gegen die Wiederaufnahme von Abschiebungen nach Afghanistan in den Jahren 2016/17 ein. Unter anderem wird diskutiert, welche Rolle die gemeinsame Erfahrung einer existenziellen Bedrohung für die Überwindung etablierter Differenzen und Spaltungen zum Zwecke der gemeinsamen Mobilisierung gespielt hat. Während dieses Kapitel dezidiert auch die Rolle von Emotionen betont, wäre es insgesamt erfreulich gewesen, wenn diese Thematik in allen vier Fallstudien stärkere Beachtung gefunden hätte. Gerade für den Vergleich unterschiedlicher Formen der Affektmobilisierung bieten die betrachteten Beispiele eine spannende Grundlage für weitere Diskussion.
Abschließende Bewertung
Während insgesamt die Schaffung (relativ) autonomer Räume für die Entstehung und Aufrechterhaltung kollektiver Mobilisierung als zentral eingeordnet wird, zeigen alle vier Protestbeispiele jedoch auch, dass ihre kontinuierliche Reproduktion nur schwer möglich ist. Die komplexe Fragmentierung der Protestakteure entlang der genannten Problemlagen ist nicht selten die Achillesferse der Proteste insofern sie deren Eindämmung durch staatliche Institutionen über die Teilintegration weniger Betroffener bei gleichzeitiger Entrechtung der Gesamtgruppe ermöglicht. Insbesondere hier liegt die Stärke von Steinhilpers Analyse; während Allianzbildungen in ihrer politischen Kraft als emanzipatorische Orte des Zusammenkommens gewürdigt werden, werden sie zugleich nicht als Utopien im Hier und Jetzt idealisiert, sondern in ihrer zwangsweisen Fragilität anerkannt. Eben weil die Akteure im Rahmen irregularisierter Migration als gesellschaftlich Exkludierte zusammenkommen, bleiben grundsätzliche Verbesserungen für Individuen dauerhaft im Spannungsverhältnis zu größeren und langfristigen politischen Zielen. Diese empirischen Erkenntnisse bilden eine gehaltvolle Grundlage, um mit gesellschaftstheoretischen Debatten über Rechtslosigkeit und die Frage des Politischen – von Hannah Arendt über Jacques Rancière bis zu Ayten Gündoğdu – in den Dialog zu treten. Eine solche vertiefte Reflexion wäre für zukünftige Projekte ein vielversprechender Startpunkt.
Insgesamt gelingt dem Autor eine umfassende Rekonstruktion der vier Protestgeschichten, die nicht nur über deren jeweilige Entstehungs- und Entwicklungsdynamiken aufklärt, sondern auch einen Beitrag zur Würdigung dieser Kämpfe für die Rechte prekärer Migrant*innen leistet. Diese Leistung wird durch die angesprochenen Kritikpunkte nicht geschmälert. Erhellend ist der sich auf das Spannungsverhältnis von Akteuren, Interaktionen und Räumen konzentrierende Deutungsansatz, der sich als besonders hilfreich erweist, um den politischen Handlungsspielraum auszuloten, den sich Menschen selbst unter äußerst prekären Bedingungen erkämpfen können. Zugleich wird der Doppelfunktion dieser Proteste Rechnung getragen; denn es geht niemals nur um Fragen der politischen Zielsetzung, sondern immer auch um die Schaffung von Räumen, in denen das Handeln als politische Subjekte möglich wird.
Auf unserem Blog stellen wir in unregelmäßigen Abständen Buchpublikationen von ipb-Mitgliedern vor. Bisher sind Rezensionen zu folgenden Büchern erschienen:
Ganz, Kathrin. 2018. Die Netzbewegung. Subjektpositionen im politischen Diskurs der digitalen Gesellschaft (Verlag Barbara Budrich), rezensiert von Friederike Habermann.
Müller, Melanie. 2017. Auswirkungen internationaler Konferenzen auf Soziale Bewegungen (Springer VS), rezensiert von Antje Daniel.
Roose, Jochen / Dietz, Hella (Hrsg.). 2016 Social Theory and Social Movements. Mutual Inspirations (Springer VS), rezensiert von Janna Vogl.
Zajak, Sabrina. 2016. Transnational Activism, Global Labor Governance, and China (Palgrave), rezensiert von Melanie Kryst.
Daphi, Priska/Deitelhoff, Nicole/Rucht, Dieter/Teune, Simon (Hg.) 2017: Protest in Bewegung? Zum Wandel von Bedingungen, Formen und Effekten politischen Protests (Leviathan Sonderheft, Nomos), rezensiert von Luca Tratschin.
della Porta, Donatella (Hg.): 2018. Solidarity Mobilizations in the ‚Refugee Crisis‘ (Palgrave), rezensiert von Leslie Gauditz.
Daphi, Priska 2017: Becoming a Movement – Identity, Narrative and Memory in the European Global Justice Movement (Rowman & Littlefield), rezensiert von Johannes Diesing.
Mullis, Daniel 2017: Krisenproteste in Athen und Frankfurt. Raumproduktionen der Politik zwischen Hegemonie und Moment (Westfälisches Dampfboot), rezensiert von Judith Vey.
Wiemann, Anna 2018: Networks and Mobilization Processes: The Case of the Japanese Anti-Nuclear Movement after Fukushima (Iudicium), rezensiert von Jan Niggemeier.
Lessenich, Stephan 2018: Neben uns die Sintflut: Wie wir auf Kosten anderer Leben. München (Piper), sowie Brand, Ulrich/Wissen, Markus 2017: Imperiale Lebensweise: Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im Kapitalismus (oekom), rezensiert von Fabian Flues.
Grote, Jürgen R./Wagemann, Claudius 2019: Social Movements and Organized Labour (Routledge), rezensiert von Susanne Pernicka.
Maik Fielitz/Nick Thurston (Hg.) 2020: Post-Digital Cultures of the Far Right. Online Actions and Offline Consequences in Europe and the US (Transcript), rezensiert von Tobias Fernholz.
Grimm, Jannis/Koehler, Kevin/Lust, Elisabeth/Saliba, Ilyas/Schierenbeck, Isabelle 2020. Safer Field Research in the Social Sciences. A Guide to Human and Digital Security in Hostile Environments (Sage), rezensiert von Luca Miehe.
Vey, Judith/Leinius, Johanna/Hagemann, Ingmar 2019: Handbuch Poststrukturalistische Perspektiven auf soziale Bewegungen Ansätze, Methoden und Forschungspraxis (Transcript), rezensiert von Alexandra Bechtum und Carolina A. Vestana.
Bosse, Jana 2019: Die Gesellschaft verändern. Zur Strategieentwicklung in Basisgruppen der deutschen Umweltbewegung (Transcript) und Lay-Kumar, Jenny 2019: Aktivismus zwischen Protest und Gestaltungsraum. Jugendumweltgruppen und ihr Verhältnis zum Klimaschutz (Transcript), rezensiert von Andreas Kewes.