Auf unserem Blog stellen wir in unregelmäßigen Abständen Buchpublikationen von ipb-Mitgliedern vor. Bisher sind Rezensionen zu folgenden Büchern erschienen:
Ganz, Kathrin. 2018. Die Netzbewegung. Subjektpositionen im politischen Diskurs der digitalen Gesellschaft (Verlag Barbara Budrich), rezensiert von Friederike Habermann.
Müller, Melanie. 2017. Auswirkungen internationaler Konferenzen auf Soziale Bewegungen (Springer VS), rezensiert von Antje Daniel.
Roose, Jochen / Dietz, Hella (Hrsg.). 2016 Social Theory and Social Movements. Mutual Inspirations (Springer VS), rezensiert von Janna Vogl.
Zajak, Sabrina. 2016. Transnational Activism, Global Labor Governance, and China (Palgrave), rezensiert von Melanie Kryst.
Daphi, Priska/Deitelhoff, Nicole/Rucht, Dieter/Teune,Simon (Hg.) 2017: Protest in Bewegung? Zum Wandel von Bedingungen, Formen und Effekten politischen Protests (Leviathan Sonderheft, Nomos), rezensiert von Luca Tratschin.
della Porta, Donatella (Hg.): 2018. Solidarity Mobilizations in the ‚Refugee Crisis‘ (Palgrave), rezensiert von Leslie Gauditz.
Daphi, Priska 2017: Becoming a Movement – Identity, Narrative and Memory in the European Global Justice Movement (Rowman & Littlefield), rezensiert von Johannes Diesing.
Mullis, Daniel 2017: Krisenproteste in Athen und Frankfurt. Raumproduktionen der Politik zwischen Hegemonie und Moment (Westfälisches Dampfboot), rezensiert von Judith Vey.
Es folgt nun Jan Niggemeier mit einer Rezension zu Wiemann, Anna 2018: Networks and Mobilization Processes: The Case of the Japanese Anti-Nuclear Movement after Fukushima. Die Rezension erschien ursprünglich unter dem Titel „Netzwerkmobilisierung im Verborgenen“ in Heft 4/2018 des Forschungsjournals Soziale Bewegungen.
Dass Katastrophen und Krisen oft als auslösende Faktoren für die Entstehung politischen Protests wirken, zeigt sich anschaulich am Beispiel der Welle von Anti-Atomkraft-Protesten in Japan nach dem verheerenden Atomunglück von Fukushima. Political process-Ansätze identifizieren derartige political opportunities als Grundlage für die Mobilisierung von sozialen Bewegungen. Zwar existieren auch in Japan Strukturen der Anti-Atomkraftbewegung seit mehreren Jahrzehnten. Im heutigen Japan, wo offener politischer Protest ein eher seltenes Phänomen darstellt, ist die seit 2011 beobachtbare Protestwelle jedoch in ihrem Ausmaß und ihrer Intensität einschneidend. Auf welche Weise sich Mobilisierungsprozesse innerhalb des Netzwerks der unterschiedlichen Anti-Atomkraft-Gruppen konkret abspielen, bleibt jedoch undurchsichtig.
Netzwerk-Mobilisierung als neuer analytischer Ansatz
In ihrer als Buch erschienenen Dissertation „Networks and Mobilization Processes: The Case of the Japanese Anti-Nuclear Movement after Fukushima“ unternimmt Anna Wiemann den Versuch, eben solche, weitestgehend verborgenen Mobilisierungsprozesse in Bewegungsnetzwerken sichtbar zu machen. Wiemann verortet ihre Arbeit in der sozialen Bewegungsforschung und entwickelt, aufbauend auf political process-Modellen und Ansätzen der Netzwerktheorie, einen eigenen analytischen Ansatz zur Untersuchung der auf der Meso-Ebene stattfindet. „Netzwerk-Mobilisierung“. Durch die Verknüpfung mit sozialkonstruktivistischen Ansätzen der New York School of Relational Sociology greift Wiemann damit eine Leerstelle bisheriger Modelle der Bewegungsforschung auf: Mobilisierungsmechanismen im Netzwerk als black box. Die Autorin geht dabei von der Annahme aus, dass Akteure und deren Verhalten maßgeblich durch die Wahrnehmung und Interpretation ihrer Beziehungen innerhalb des Bewegungsnetzwerks beeinflusst werden. Prozesse der Meso-Mobilisierung durch Koalitionsbildung mehrerer Bewegungsorganisationen setzen den Rahmen für gemeinsame Aktionsprofile von Bewegungsnetzwerken. Auf Basis einer umfangreichen Empirie zweier Beispiele von Bewegungsnetzwerken diskutiert Wiemann, auf welche Weise sich latente Bewegungsstrukturen einerseits und einschneidende Schlüsselereignisse wie der Atomunfall von Fukushima 2011 andererseits auf Mobilisierungsprozesse und letztendlich Aktionsprofile innerhalb der japanischen Anti-Atomkraftbewegung auswirken.
Fukushima als political opportunity
Die japanische Anti-Atomkraftbewegung nach Fukushima stellt dabei ein interessantes Fallbeispiel für die Meso-Mobilisierung sozialer Bewegungen dar. Gerade aufgrund der etablierten Charakterisierung der japanischen Zivilgesellschaft als „schwach“ oder „unsichtbar“ (Pekkanen 2003, Foljanty-Jost 2005), qualifiziert sich der gewählte Kontext für die Untersuchung eben solcher, wie Wiemann beschreibt, „weniger sichtbaren“ (59) Mobilisierungsprozessen auf der Meso-Ebene. Als eines der größten politischen Protestereignisse in der jüngeren Geschichte Japans erlebte die Anti-Atomkraftbewegung nach dem Atomunfall von 2011 darüber hinaus eine Periode der höchst intensiven Mobilisierung. Trotz bereits bestehender Bewegungsstrukturen, so argumentiert Wiemann, bedurfte es einer sich plötzlich und rasant wandelnden öffentlichen Meinung gegenüber Atomkraft als political opportunity für die jüngste Welle des Protests in Japan.
Nach einer sorgfältigen kontextuellen Einführung zu Besonderheiten der japanischen Zivilgesellschaft und speziell zur Anti-Atomkraftbewegung vor und nach dem Atomunfall von Fukushima diskutiert Wiemann die Synthese ihres Modells der „Netzwerk-Mobilisierung“.
Darauf aufbauend strukturiert die Autorin ihre Untersuchung von Mobilisierungsprozessen in drei Aspekte: angewandte Aktionsprofile, Interaktionen im Netzwerk sowie latente Strukturen innerhalb der Bewegung. Wiemanns Forschung basiert auf einer umfassenden Methodenarbeit mit Daten aus zahlreichen Interviews mit Vertretern verschiedener Bewegungsgruppen, aus teilnehmenden Beobachtungen bei Veranstaltungen und Versammlungen sowie einer quantitativen, strukturellen Netzwerkanalyse. Unter Berücksichtigung einer eindrucksvollen Fülle von qualitativen und quantitativen Daten stellt sie zwei repräsentative Netzwerke innerhalb der japanischen Anti-Atomkraftbewegung gegenüber; e-shift und SHSK.
Zwei Bewegungsnetzwerke im Vergleich
Beide Netzwerke haben sich nach dem Atomunfall von Fukushima 2011 gebildet, bestehen aus einer Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Kleingruppen, unterscheiden sich jedoch in den von ihnen vertretenen Schwerpunktthemen. Während e-shift Forderungen nach einem Atomausstieg und einer langfristigen Energiewende vertritt, setzt sich das Netzwerk SHSK vorrangig für die Rechte von Betroffenen aus den verstrahlten Gebieten in der Umgebung des Unfallreaktors ein. Als erstmaliger Zusammenschluss zuvor in Japan getrennter Anti-Atomkraft-, Umweltschutz-, und Verbraucherschutzgruppen wählt e-shift das Format eines losen, aber offenen, größtmöglichen Netzwerks. Dem gegenüber grenzt sich die wesentlich formellere Koalition von Betroffenengruppen unter dem Netzwerk SHSK von Primärforderungen einer Energiewende ab und fokussiert sich auf das gemeinsame Ziel der politischen Einflussnahme auf den Gesetzgebungsprozess des Nuclear Victims‘ Support Act.
Aufbauend auf einen umfassenden Vergleich der Koalitionsbildung beider Netzwerke argumentiert Wiemann, dass die Mobilisierung der Bewegung zwar durch das nukleare Desaster ausgelöst, jedoch maßgeblich durch fünf Netzwerk-Faktoren beeinflusst wurde: den latenten Beziehungsstrukturen der Bewegung, der Wahrnehmung des Atomunfalls als political opportunity, der strategischen Definition von issue fields, der gesellschaftlichen Unterstützung und Resonanz des Themas sowie der Beziehung der Bewegung zu politischen Akteuren. Die Autorin beschließt mit der Einsicht, dass bei der Beurteilung zivilgesellschaftlicher Stärken und Schwächen nicht nur individuelle Gruppen, sondern darüber hinaus deren Netzwerkstrukturen und -kulturen als wichtige Bewegungsressourcen berücksichtigt werden müssen.
Interessant für breite Leserschichten
Wiemann tangiert in ihrem Buch sowohl theoretisch als auch kontextual-empirisch wichtige Diskussionen und erschließt sich somit eine breite Zielgruppe; innerhalb der Netzwerk- und sozialen Bewegungsforschung, aber auch in der japanischen Regionalwissenschaft. Die Arbeit liefert durch den neuartigen Fokus auf Mobilisierungsprozesse auf der Meso-Ebene wichtige Erkenntnisse zu einem, vor allem in der japanbezogenen Bewegungsforschung, bisher wenig beachteten Gesichtspunkt. Im Hinblick auf die Vielzahl von Forschungsarbeiten zur japanischen Anti-Atomkraftbewegung nach dem Atomunfall von Fukushima 2011 gelingt es Wiemann nicht nur, neue Perspektiven des Phänomens zu beleuchten, sondern darüber hinaus die gewonnenen Einsichten auch mit der Diskussion um die Besonderheiten sozialer Bewegungen in Japan zu verknüpfen. Während diese im Vergleich zu anderen regionalen Kontexten in der Öffentlichkeit als schwach erscheinen mögen, spielen weniger sichtbare, „organische“ Netzwerkprozesse (253) zivilgesellschaftlicher Strukturen eine wesentlich wichtigere Rolle. Wiemanns Erkenntnisse stehen damit nicht im Kontrast zu etablierten Ansichten, ihre Forschung liefert jedoch Einsichten über Prozesse und Mechanismen der bisher wenig untersuchten Meso-Ebene sozialer Bewegungen.
Leider gerät die Würdigung zur theoretischen Diskussion in ihrem eindrucksvollen Beitrag etwas zu kurz. Gerade in Anbetracht der umfangreichen Theoriearbeit zu Beginn des Buches wäre eine abschließende kritische Reflektion des Modells und seiner Anwendung in anderen Kontexten wünschenswert und hilfreich für weitergehende Entwicklungen gewesen. Darüber hinaus erhält der Leser durch die sorgfältige Vorstellung und Untersuchung der beiden Fallbeispiele zwar einen tiefen Einblick und ein gutes Verständnis über die Struktur und Hintergründe japanischer Bewegungsnetzwerke. Die Fallbeschreibungen verlieren sich jedoch stellenweise in erlässlichen Details, welche die Lektüre besonders für Leser ohne Vorkenntnisse über den japanischen Gesellschaftskontext mühsam gestalten könnte. Insgesamt ist Wiemanns Arbeit ein aufschlussreiches Buch, das sich auf geschickte Weise eine große Bandbreite an Lesern erschließt. Es veranschaulicht die Notwendigkeit, Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegungen auf der Meso-Ebene zu berücksichtigen, auch wenn diese auf den ersten Blick nicht direkt zu erkennen sind. Gerade im japanischen Kontext spielen diese Mechanismen eine tragende Rolle in der Entwicklung sozialer Bewegungen, wie die Autorin überzeugend darlegt. Abschließend ist hervorzuheben, dass die theoretische Vorarbeit Wiemanns zur Anwendung des von ihr entwickelten Modells in weiteren Falluntersuchungen inspiriert.
Literatur
Foljanty-Jost, Gesine 2005: NGOs in Environmental Networks in Germany and Japan: The Quest for The Question of Power and Influence. In: Social Science Japan Journal, 8(1), 103–117
Pekkanen, Robert 2003: Molding Japanese Civil Society: State-Structured Incentives and the Patterning of Civil Society. In: Frank Jacob Schwartz & Sudan J. Pharr (Hg.): The State of Civil Society in Japan. Cambridge: Cambridge University Press.
Photo: Matthias Lambrecht @Flickr (CC BY-NC 2.0).
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