von Peter Ullrich
zuerst erschienen im Neuen Deutschland am 24. November 2012
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Wir leben in einer »Bewegungsgesellschaft«. Was die US-amerikanischen Protestforscher David Meyer und Sidney Tarrow bereits in den 1990er Jahren feststellten, trifft wohl spätestens seit 2010 auch für die Bundesrepublik zu – zumindest, wenn man die mediale Präsenz von Protest als Gradmesser nimmt. Mit dem »Wutbürger« schien hierzulande ein gänzlich neues Phänomen entdeckt. Stuttgart 21, der Arabische Frühling, die Krisenproteste in Südeuropa und viele andere Bewegungen bestimmten und bestimmen Abendnachrichten und Polittalkshows. Der Occupy-Bewegung widmeten verschiedene große Medien anlässlich ihres ersten Geburtstages im September 2012 Aufmacher – obwohl Occupy mittlerweile fast komplett verschwunden ist. Ein erstaunliches Phänomen.
Wir leben aber auch in einer »Wissensgesellschaft«. Gemeint ist damit die relativ hohe Bedeutung von Wissen, also einem immateriellen Gut, als Produktivkraft. Gemeint ist damit auch, dass wir immer mehr verstehen, wie Wissenspolitiken Gesellschaft ordnen, Macht und Herrschaft legitimieren, gestalten und festigen, Ansichten normieren, Menschen ein- und ausschließen. Und schließlich ist damit gemeint, dass sich hochgradig spezialisierte Institutionen bilden, die systematisch Wissen produzieren, verwalten, differenzieren und damit eine Art zweite, wieder in die Gesellschaft zurückwirkende Realität schaffen. Der zentrale »Ort« dafür ist die Wissenschaft. Sie erarbeitet detailliertes Wissen vom Funktionieren der Weltwirtschaft bis zum Paarungsverhalten der Nacktmulle und produziert entsprechende Experten und Einrichtungen.
Angesichts dieser Situation ist es umso erstaunlicher, dass es, zumindest in der Bundesrepublik, eine institutionalisierte Wissenschaft des Protests und der sozialen Bewegungen fast nicht gibt. Nur in Bochum existiert noch ein »Institut für soziale Bewegungen«. Dieses ist aber sehr historisch (auf die Arbeiterbewegung) und regional (auf das Ruhrgebiet) fokussiert. Bis zum vergangenen Jahr gab es auch noch eine Forschergruppe am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, die von Friedhelm Neidhardt Ende der 1980er Jahre gegründet und später von Dieter Rucht geleitet wurde. Mit der Emeritierung Ruchts ging auch die Arbeit der Gruppe zu Ende, die Stelle wurde nicht neu ausgeschrieben. Erst jüngst gibt es Versuche, diese Arbeit weiterführen zu können.
Protestforschung ist zwar beliebtes Thema für Master- oder Doktorarbeiten, auch Workshops und wissenschaftliche Konferenzen gibt es derzeit en masse. Doch eine berufliche Perspektive lässt sich mit solcher Expertise nicht begründen. Dabei ist das gesellschaftliche Interesse an kompetenten Einschätzungen zum Protestgeschehen in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und mancher Medienbluff brauchte dringend empirische Erdung. So zeigte die Arbeit der Forschergruppe, dass die in Stuttgart demonstrierenden »Wutbürger« mitnichten so sehr vom üblichen Demonstrantenprofil, beispielsweise der Friedensbewegung, abwichen. Anders als häufig angenommen wurde, waren sie kaum bürgerlicher oder konservativer; auch in Stuttgart waren vor allem recht gut gebildete, linksliberale Mittelschichtsangehörige mit Demonstrationserfahrungen zu anderen Themen auf den Straßen.
Doch Forschung zu sozialen Bewegungen ist nicht nur gut, um falsches Allerweltswissen zu verunsichern und das aktuelle Protestgeschehen zu »vermessen«. Sie behandelt einige der drängendsten Probleme unserer Zeit. Während unter postdemokratischen Vorzeichen kaum mehr unterscheidbare Parteien ihre Bindungskraft verlieren, während mehr und mehr politische Entscheidungsmacht an dürftig legitimierte supranationale Institutionen oder technokratische Expertengremien delegiert wird, während eine autoritäre Austeritätspolitik demokratische Institutionen mit unverblümter Offenheit aushebelt, wird von vielen Seiten große Hoffnung in soziale Bewegungen gesetzt. Sie entwickeln andere Formen des Austauschs und der kollektiven Entscheidungsfindung und sind ein zentraler gegenhegemonialer Akteur in der aktuellen Krisenbewältigung und in vielen anderen umstrittenen Politikfeldern. Sie sind »Laboratorien der Demokratie« (Simon Teune) und stehen – wenn auch nicht ausschließlich – für den Versuch der Einlösung von Michel Foucaults Utopie, »nicht dermaßen regiert zu werden«, sondern die eigenen Geschicke auch in die eigenen Hände zu nehmen.
Der besondere Nutzen von Protestforschung besteht darin, dass sie oft von einer gewissen Grundsympathie mit ihrem Objekt angetrieben wird, zumindest solange es um eher progressive Bewegungen geht, aber doch meist ausreichend Distanz wahrt, um nicht schlicht die Selbstbeschreibungen und Selbstmissverständnisse der Bewegungen zu reproduzieren. Protestforschung in diesem Sinne hinterfragt nicht nur mediales Schablonenwissen über den Protest, sondern auch das Meinen der Bewegten. Sie erforscht im besten Fall diejenigen Konstitutionsbedingungen, Dynamiken und Folgen von Protest, die aus der Innensicht oft kaum deutlich werden. Dazu gehören auch Ambivalenzen der Bewegungspolitik, beispielsweise die Lücken zwischen eigenen universellen Ansprüchen und oft sehr partikularen Praktiken, wenn beispielsweise informelle Hierarchien die selbstgesetzten egalitären Ansprüche unterlaufen. Des Weiteren kann sie zeigen, wie sehr bestimmte Abgrenzungs- und Identitätsbedürfnisse oder nationale Prägungen das Bewegungshandeln bestimmen. Die Forschung trägt damit zum Verständnis von Schwierigkeiten in der transnationalen Kooperation bei.
Höchst notwendig ist eine kritische Protestforschung auch hinsichtlich des staatlichen Umgangs mit Protest. Dies ist ein akuter neuralgischer Punkt, wie zuletzt die Repressionsorgie gegen die Blockupy-Proteste in Frankfurt am Main und die Auflösung aller größeren Occupy-Camps verdeutlichen. Dabei war seit den 1960er Jahren ein zunehmendes Maß an Toleranz gegenüber Protestierenden sowie eine Abnahme des Einsatzes eskalierender Polizeistrategien zu beobachten. Der polizeiliche Respekt für demokratische Rechte war gestiegen, das war der Tenor der Forschung. Das ging bis hin zur Akzeptanz geringfügiger Gesetzesübertretungen im Sinne eines friedlichen Gesamtverlaufs von Demonstrationen. Dieses Bild lässt sich immer schwerer aufrechterhalten. Die überbordenden Präventivmaßnamen wie komplette Armierung der Beamten, einschließende Begleitung, dauerhafte Videoaufzeichnung, nationale und internationale Datensammlungen, verschärfte Auflagenerteilung, der Versand von »Gefährderanschreiben« und komplette Demonstrationsverbote lassen die Grenze von Prävention und Repression erodieren. Diese Entwicklungen wie auch die teilweise exzessiven Gewalteskalationen insbesondere bei Gipfelprotesten zeigen, dass im Bereich unkonventioneller politischer Beteiligung die Gewährleistung von Grund- und Freiheitsrechten keinesfalls selbstverständlich ist.
Die größte Herausforderung der Protestforschung ist es aber sicherlich, die Auswirkungen der gegenwärtigen tiefgreifenden Transformationsprozesse auf die Formierung und die Erfolgschancen von Protest zu verstehen. Die Frage, ob die allgegenwärtige neoliberale Aktivierungspolitik hinderlich für Protest ist, spielt dabei eine wichtige Rolle: Wie protestwillig und -fähig sind vollkommen individualisierte Subjekte, die im Fitnessstudio, im Jobcenter, beim Ernährungsberater oder im Personality Coaching nur gelernt haben, dass sie im Zweifel selbst an ihrer Misere schuld sind? Durch solcherart neoliberale Anrufungen glauben unzufriedene Menschen möglicherweise zunehmend, dass sie lediglich ihr Humankapital nicht ausreichend optimiert haben und fühlen sich deshalb nicht legitimiert, mutig soziale Forderungen zu stellen. Ich vertrete diese These unter anderem, um zur Erklärung der Schwäche von Sozialprotesten in der Bundesrepublik beizutragen. Umgekehrt wäre es jedoch auch möglich, dass gerade die prekäre soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten politische Bewegungen auslösen kann. Dies postuliert etwa Isabel Lorey in Bezug auf aktuelle Krisenproteste wie auch auf den Arabischen Frühling. Solche und viele andere Fragen, etwa auch zum Problem der sozialen Ungleichheit im Mittelschichtphänomen Soziale Bewegung, stellen sich zuhauf.
Vor Kurzem hat sich ein Kreis von Engagierten zusammengefunden, um Protestforschung wieder mit einem eigenen Ort zu versehen. Es wurde ein Verein gegründet, der in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Berlin und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ein »Institut für Protest- und Bewegungsforschung i.G.« ins Leben gerufen hat. Mit dabei sind etablierte und jüngere Forscherinnen und Publizisten, die sich mit unterschiedlichsten Aspekten sozialer Bewegungen befasst haben. Sie sind – wie auch ich – zum Teil eher bewegungsnah, zum Teil eher bewegungsfern, aber geeint im wissenschaftlichen Interesse am Phänomen Protest, seinen sozialen Ursachen, Entwicklungen und Auswirkungen. Ob es unserem Institut gelingt, zum wichtigen Wissensproduzenten der Bewegungsgesellschaft zu werden, wird sich zeigen. Schön wäre es.