Ein Dossier aus aktuellem Anlass
Angaben zu den Teilnehmerzahlen an bestimmten Demonstrationen und anderen Massenversammlungen weichen häufig weit voneinander ab. Sie sind zuweilen auch Gegenstand unterschiedlicher politischer Interessen bis hin zu deutlichen Manipulationsversuchen. Dieses Dossier aus aktuellem Anlass (Pegida, Legida etc.) beschreibt zum einen die gängigen Verfahren zur Bestimmung von Teilnehmerzahlen. Zum anderen liefert es Zahlenmaterial zu Demonstrationen von Pegida (Dresden) und Legida (Leipzig) und erläutert das Verfahren, mit dem eine große Gruppe von Beobachtern (WZB, Verein für Protest- und Bewegungsforschung, TU Chemnitz) der Pediga-Demonstration am 12. Januar 2015 in Dresden zu ihrer Schätzzahl von 17.000 Teilnehmern kam (Polizei 25.000 Teilnehmer).
Die gängigen Verfahren
1. Die Daumenpeilung
Beispiel: „Ich kenne mich da aus. Ich habe schon mehrfach demonstriert. Das sind bestimmt 10.000 Menschen, wenn nicht 20.000.“
2. Erfahrungswerte mit Anhaltpunkten
Beispiel 1: Polizeibeamter:
„Wir wissen, dass dieser Platz X maximal 5.000 dicht gedrängte Menschen fassen kann. Heute standen sie aber nicht so dicht gedrängt. Es waren somit höchstens 4.000 Menschen auf dem Platz.“
Beispiel 2:
„Der Platz Y war überfüllt. Teilweise standen die Menschen noch in den angrenzenden Strassen. Es waren bestimmt 7.000, wenn nicht 10.000 Menschen.“
3. Luftbildaufnahmen
Dieses Verfahren wird u. a. bei Massendemonstrationen in den USA verwendet. Anhand der Aufnahmen ist die räumliche Ausdehnung der Masse zu erkennen. Es können dann Stichproben von Teilflächen (auch in unterschiedlich dichter Besetzung) ausgezählt und auf die gesamte, von der Menge besetzte Fläche hochgerechnet werden. Theoretisch wäre es sogar möglich, eine nahezu exakte Zählung der Köpfe zu einem oder mehreren Zeitpunkten der Veranstaltung vorzunehmen. Dies ist vermutlich das genaueste Verfahren für stationäre Kundgebungen.
4. Schätzungen/Zählungen von bzw. in Menschenmengen auf dem Boden
Große Menschenmengen (Versammlungen auf Plätzen) können nur annäherungsweise durch Zähl- und Schätzverfahren unmittelbar vor Ort quantifiziert werden. Eine Möglichkeit besteht darin, die durch die Menschen besetzte Gesamtfläche grob zu ermitteln und dann stichprobenartig die Zahl der Menschen (z.B. pro 10 qm) einmal oder – besser – mehrfach an Stellen mit unterschiedlicher Menschendichte auszuzählen, um diese Werte dann auf die Gesamtfläche hochzurechnen. Erfahrungsgemäß besteht eine höhere Dichte vor der Bühne, vor den Rednern, dem Lautsprecherwagen etc., während die Ränder ausfransen. Teilweise halten sich dort auch Zuschauer, Neugierige oder andere Gruppen (Sanitäter, Journalisten, Gegendemonstranten mit Schildern etc.).
Eine andere Möglichkeit besteht darin, bestimmte Segmente aus der Gesamtmenge auszuzählen. Bei einer halbwegs symmetrischen Anordnung der Menge vor der Bühne genügt es, sich nur einer Hälfte zuzuwenden. Diese Hälfte kann wiederum in mehrere Untersegmente aufgeteilt werden (z.B. Abschnitte quer zur Mittelachse), für die jeweils separat geschätzt bzw. gezählt wird. Allerdings fallen die Grenzziehungen zwischen diesen Untersegmenten schwer. Optische Blickachsen, orientiert an bestimmten Fixpunkten oder Markierungen, können dabei hilfreich sein.
Bei einer asymmetrischen Anordnung der Menschenmenge, z.B. einer Fortsetzung der an einem Platz versammelten Menschenmenge in den angrenzenden Straßen, wäre eine Zählung auch dieser weiteren Segmente möglich. Aber dies erfordert einen hohen Personalaufwand.
5. Schätzung/Zählungen bei Protestmärschen
Leichter als bei Menschenmengen ist die Zählung/Schätzung von Protestmärschen. Hier kann man als Beobachter die Vorbeiziehenden registrieren, eine ungefähre Reihenzählung von Anfang bis Ende des Zuges vornehmen (wobei halbe Reihen oder lockere Kleingruppen blitzschnell in ganze Reihen umzurechnen wären – nicht einfach ohne Erfahrung und Übung) und die mittlere Personenanzahl von gedanklich kompletten Reihen ermitteln. Die Reihenzählung kann für die gesamte Dauer des vorbeiziehenden Zuges erfolgen, aber auch für einen Zeitabschnitt von nur wenigen Minuten, der dann auf die Dauer umgerechnet wird, die der ganze Zug braucht, um bei den Beobachtern zu passieren. Im Falle einer zeitlich eng begrenzten Zählung von wenigen Minuten ist wiederum zu berücksichtigen, dass bei der ermittelten Gesamtdauer des Marsches Phasen der Verlangsamung, der Beschleunigung oder des vorübergehenden Stockens bzw. Haltens berücksichtigt werden.
Die vermutlich verlässlichste Quelle einer Zählung von Marschierern ist die Dokumentation des vorbeiziehenden Marsches durch eine stationäre Videokamera. Das Bildmaterial erlaubt dann eine relativ präzise Zählung, da Standbilder betrachtet werden können bzw. die Zählung durch die Zeitlupenfunktion erleichtert wird.
Derartige Zählungen als Indikator für die Gesamtzahl der Protestierenden werden dann problematisch, wenn sich eine nennenswerte Anzahl von Menschen erst während des Marsches anschließt, wenn im Falle einer vorausgegangenen Kundgebung viele der dort anwesenden Menschen nicht mehr am Marsch teilnehmen oder, z.B. wegen des zeitlichen Aufwandes von Auftaktkundgebung und Marsch, sich auf direktem Weg zur Abschlussveranstaltung begeben.
Fazit: Eine Schätzung oder Zählungen kann mit unterschiedlichen Methoden und sehr unterschiedlichem Aufwand betrieben werden. Je genauer sie sein soll, desto mehr Aufwand ist erforderlich.
Zahlen zu Pegida und Legida
Pegida
Die Angaben der Polizei zu Pegida wurden von den Veranstaltern bis zur (bislang) zwölften Protestaktion (12.1.2015) kommentarlos übernommen. Dies galt auch für fast alle Agenturen sowie Print-, Radio- und TV-Medien mit nationaler Reichweite. Skepsis kam erst auf, als Journalisten der Dresdener Neuesten Nachrichten Zweifel anmeldeten. Namentlich Hauke Heuer nahm eigene Schätzungen vor, die deutlich unter den Angaben der Polizei lagen. Heuer und ein unabhängig von ihm vorgehender Kollege kamen am 23.12. 2014 und am 05.01.2015 anhand eines groben Schätzverfahrens etwa auf die Hälfte der Polizeiangaben.
Die aufwändige Schätzung/Zählung durch mehrere Beobachterteams der Forschungsgruppe aus Berlin (WZB, Verein für Protest- und Bewegungsforschung) und Chemnitz (TU), die die Veranstaltung am 12.1.2015 näher unter die Lupe nahm, erbrachte erneut eine Diskrepanz der Zahlen. Die in einem Beobachterteam von drei Personen ermittelte und kurz nach der Veranstaltung als vorläufig bezeichnete Zahl von 18.400 wurde später durch die Zahlen weiterer Teams ergänzt und gewichtet, so dass am Ende die Zahl von 17.000 (mit einer Fehlertoleranz von ca. 10%) ausgegeben wurde.
Die Beobachter gingen wie folgt vor:
(a) Grobe Schätzungen während der Auftaktkundgebung
Verfahren: Es wurde versucht, die linke Hälfe der Kundgebung, eingeteilt in fünf Untersegmente, durch insgesamt 10 Personen zu zählen bzw. zu schätzen. Ergebnis: knapp 4.000 Leute. Die rechte, der Stadtmitte zugewandte Seite umfasste ca. dreimal mehr Teilnehmer als die linke Hälfte. Demnach ergäbe sich eine Gesamtzahl von ca. 16.000. Dieses Verfahren ist mit sehr großen Unsicherheiten behaftet.
(b) Zählung während des Marsches
Gruppe 1 (TU Chemnitz, mehrere Personen): 12.000
Gruppe 2 (TU Chemnitz, mehrere Personen): 11.800
Gruppe 3 (Berlin, drei Personen): 18.400
Verfahren für Gruppe 1 und 2:
Zählung der Reihen (unter Berücksichtigung unvollständiger Reihen und Kleingruppen) multipliziert mit der durchschnittlichen Zahl der Personen pro Reihe. Unternommen wurde die Zählung von Studierenden, die dies zum ersten Mal praktiziert haben.
Verfahren für Gruppe 3 (eine erfahrene Forschergruppe aus drei Personen):
Nach einigen kurzen Tests zum Abgleich der Zählung von Reihen und der Zahl von Personen pro Reihe durch die drei Beobachter wurde eine Zählung der Reihen (bei durchschnittlicher Marschgeschwindigkeit) vorgenommen: Ergebnis während drei Minuten: 114 Reihen a durchschnittlich 17 Personen; die Gesamtdauer des Marsches wurde durch eine Person aus Chemnitz mit 28,5 Minuten ermittelt. Es ergibt sich somit: 38 Reihen pro Minute x 28,5 Min Gesamtdauer der Marsches (von der Spitze bis zum Ende) x 17 Personen pro Reihe.
Ergebnis: 18.411 Teilnehmer.
Fazit: Wir gewichteten die Schätzung der Gruppe 3 stärker und schätzen die Zahl der Pegida-Demonstranten am 12.1.2015 in Dresden auf Basis von mehreren Verfahren und Gruppen auf rund 17.000 Menschen. Hierbei ist eine Fehlertoleranz von ca. 10 Prozent in Rechnung zu stellen.
Legida
Schätzungen und Zählungen der jüngsten Veranstaltungen von Legida (Leipzig) weisen eine noch weitaus größere Abweichung gegenüber den „offiziellen“ Zahlen der Polizei aus. Wie in Dresden wurden auch in Leipzig polizeiliche Schätzungen/Zählungen von den Medien und der Öffentlichkeit unkommentiert übernommen. Diese Zahlen haben in jüngster Zeit unabhängige Beobachter und Journalisten der Leipziger Volkszeitung in Zweifel gezogen. Auffällig war die große Diskrepanz der Angabe von 4.800 Teilnehmern (Polizei) und rund 2.000 Teilnehmern (mehrere unabhängige Beobachter einschließlich lokaler Journalisten) am 12.1.2014. Die Leipziger Volkszeitung scheint diese Diskrepanz so „gelöst“ zu haben, dass sie, einem von mir nicht nachgeprüften Hinweises eines Leipziger Kollegen zufolge, auf ihrer Titelseite von 4.800 Teilnehmern, in anderen Berichtsteilen der gleichen Ausgabe von rund 2.000 Teilnehmern sprach.
Nach einer Pressemitteilung der Universität Leipzig haben Leipziger Soziologen drei verschiedene Zählmethoden der Legida-Veranstaltung am 21.1.2015 genutzt. Alle drei Methoden ergaben Zahlen im Bereich von 4.000 bis 5.000 Teilnehmenden. Die Polizei bezifferte die Zahl der Legida-Demonstranten dieses Tages auf 15.000.
Dass der Umgang mit Zahlen bei Demonstrationen ein Dauerthema ist zeigt eine frühere Internvention anlässlich der Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV. Angesichts widersprüchlicher Zahlen und Interpretationen schienen systematische Zählverfahren schon damals angebracht (Pressemitteilung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung vom 3. September 2004. Hier als pdf).