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Selbstbewusst und verzweifelt – Motive für Flüchtlingsprotest

Warum Flüchtlinge protestieren

Berlin (dpa) – Monatelang haben Flüchtlinge den Berliner Oranienplatz und eine leerstehende Schule in der Hauptstadt besetzt sowie zuletzt kurz den Fernsehturm. Soziologe Peter Ullrich von der Technischen Universität sieht darin eine neue Form des Protests, der auch mit den Zuständen in Asylunterkünften zusammenhängt. Die Politik schiebe das Problem weiter nur hin her, kritisiert er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa.

Hat sich der Protest von Flüchtlingen in Deutschland verändert?

Auf jeden Fall. Sie organisieren sich jetzt selbst und werden nicht mehr nur von anderen vertreten. In ihrem Marsch nach Berlin und Brüssel, den Besetzungen und Hungerstreiks zeigt sich etwas Neues. Es ist die Selbstermächtigung von Menschen, die in der gesellschaftlichen Macht- und Wohlstandspyramide ganz unten stehen, mit den geringsten Beteiligungschancen und den größten Restriktionen. Damit haben sie die schlechtesten Bedingungen, sich politisch zu engagieren. Dass sie es nun tun, ist eine bemerkenswerte Entwicklung.

Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Ich sehe das als Mischung von neuem Selbstbewusstsein und schierer Verzweiflung. Die Proteste gehen beispielsweise von Asylunterkünften aus. Leider hat sich die Politik vielerorts für eine zentrale Unterbringung in Heimen entschieden, die man kaum anders als Lager bezeichnen kann. Sie liegen oft außerhalb der Städte, sind ohne Infrastruktur. Da kommen Menschen in einer miserablen sozialen Situation zusammen, ohne eigene Mittel, durch Flucht und frühere Lebenserfahrungen zum Teil traumatisiert – und vor allem ohne klare Perspektiven. Das ist sozialer Sprengstoff. Da entstehen die unterschiedlichsten Arten von Spannungen, die sich entladen. Aber es gibt unter Flüchtlingen auch ein Bewusstsein, dass man das nicht hinnehmen muss.

Kommen Aktionen denn allein von den Flüchtlingen oder spielen Unterstützer aus Deutschland auch eine große Rolle?

Natürlich existiert eine Unterstützer-Szene. Aber auch hier gibt es eine interessante Entwicklung. Das Verhältnis der Unterstützer zu den Flüchtlingen hat sich verändert. Früher war es eher ein Zugang von oben – Stellvertreterpolitik oder konkrete Solidaritätsarbeit für einzelne Leute. Nun setzen Unterstützer weiter auf Solidarität – aber sie sprechen nicht für die Flüchtlinge oder über sie. Migranten nehmen ihren Protest nun selbst in die Hand. Das sieht man auch an der Dramatik mancher Situation. Wenn sich Menschen auf dem Dach einer Schule verschanzen und mit Selbstmord drohen, spricht das vor allem für tiefe Verzweiflung und Perspektivlosigkeit.

Bringen die neuen Protestformen und die Suche nach Lösungen Parteien wie die Grünen in eine Zwickmühle?

Es findet eine weitere Entzauberung der Grünen statt. Es gibt unterschiedliche Positionen zwischen Teilen der Basis und Verantwortlichen. Überraschend ist das nicht. Die Grünen sind längst eine arrivierte Partei und vertreten keine fundamentale Alternative mehr. Aber sie haben noch diesen Nimbus des Alternativen. Das hat sicher eine Rolle bei den Aushandlungsprozessen gespielt, ihnen einen gewissen Vertrauensvorschuss gesichert.

Aber wecken solche Verhandlungen nicht eher Hoffnungen bei Flüchtlingen, die nach der Rechtslage kaum erfüllbar sind?

Es gab wohlklingende Versprechungen, die letztendlich für die Flüchtlinge wenig substanziell waren. Nach der Auflösung des Lagers auf dem Oranienplatz sind mittlerweile die ersten abgeschoben worden.

Wie bewerten Sie dann die politischen Reaktionen?

Es geht allen Beteiligten darum, das Problem irgendwie wegzuschieben. Das sieht man in Berlin an dem Hin- und Herschieben der Verantwortung zwischen Bezirk und Senat. Aber es geht auch generell um die politische Richtung, wie Deutschland künftig mit Flüchtlingen umgehen will, ob die Politik Handlungsspielräume wie ein Bleiberecht aus humanitären Gründen nutzt – oder eben nicht. Diese Debatte kristallisiert sich auch an Brennpunkten wie Kreuzberg.

Welche Rolle spielen die Medien dabei?

Generell räumen deutsche Medien bei Konflikten staatlichen Institutionen großen Raum ein. Die Interpretation der Polizei ist in der Regel sehr prominent dargestellt. Im Vergleich mit US-Medien zeigt sich beispielsweise, dass dort Nichtregierungsorganisationen und Initiativen mehr zu Wort kommen oder über Einzelschicksale berichtet wird. In Berlin werden die Protestierer bisher wenig dargestellt: Wie ist ihre Situation? Warum diese Forderungen? Um zu verstehen, was da passiert, muss man aber mit den Betroffenen selbst sprechen.

Das Interview führte Ulrike von Leszczynski (dpa).

Mit freundlicher Genehmigung der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH, Hamburg, www.dpa.com

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