Angesichts der anhaltenden Debatte über die Protestformen der Klimagerechtigkeitsbewegung hat das Portal Science Media Center unter anderem auch zwei Kollegen des ipb um eine Stellungnahme gebeten. Wir dokumentieren die Texte von Sebastian Haunss und Simon Teune hier.
Prof. Dr. Sebastian Haunss
Leiter der Arbeitsgruppe Soziale Konflikte, Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Universität Bremen
Aktuell wird viel darüber diskutiert, dass sich der Klimaprotest in Deutschland ,radikalisiere‘. Ausgangspunkt sind dabei in der Regel die Aktionen der Gruppe ,Die Letzte Generation‘, konkret zuletzt Straßenblockaden, Farbanschläge auf Parteizentralen und Anschläge mit Lebensmitteln auf Kunstwerke. Tatsächlich ist es aus mindestens drei Gründen übertrieben, von einer Radikalisierung der Klimaproteste zu reden. Angemessener wäre es, von einer Ausdifferenzierung der Protestformen innerhalb der Klimabewegung zu sprechen.
Zum einen gibt es keine generelle Tendenz zu stärker konfrontativen Protestformen in der Klimabewegung. Die Proteste von Fridays for Future setzen weiterhin in erster Linie auf Demonstrationen. Zuletzt haben im September 2022 in über 250 Städten in Deutschland Demonstrationen zum Thema Klimaschutz stattgefunden. Zum anderen sind auch die aktuellen Protestformen der Letzten Generation nur sehr begrenzte Regelüberschreitungen, bei denen es maximal zu Sachbeschädigungen in einem geringen Rahmen kommt. Angriffe auf Personen finden nicht statt. Das Gewaltniveau und vermutlich auch die Summe der Sachschäden jedes Fußballbundesliga-Samstages dürften deutlich höher liegen [1]. Und drittens ist auch auf der Ebene der Forderungen keine Radikalisierung zu beobachten. Hier besteht zwischen den verschiedenen Gruppen der Klimabewegung eine große Übereinstimmung: Sie fordern vor allem die Einhaltung der Pariser Klimaziele – letztlich also die Einhaltung eines bereits beschlossenen internationalen Vertrages und damit eine recht gemäßigte Forderung [2].
Historisch lassen sich die aktuellen Klimaproteste in Deutschland vermutlich am ehesten mit den Anti-Atomkraft-Protesten vergleichen. Die dezentrale Organisationsstruktur ist allerdings bei den aktuellen Klimaprotesten noch stärker ausgeprägt. Auch bei den Anti-Atomkraft-Protesten gab es ein Nebeneinander verschiedener Protestformen innerhalb einer Bewegung – Demonstrationen, Straßen- und Gleisblockaden sowie Sachbeschädigungen und Sabotageaktionen. Allerdings umfasste das Spektrum der Protestformen der Anti-Atomkraft-Bewegung – vor allem in den 1980er Jahren – auch deutlich weitgehendere Aktionen wie Sprengstoffanschläge auf Hochspannungsmasten [3].
Die Mobilisierungsstärke der Anti-Atomkraft-Bewegung profitierte eher von einem toleranten Nebeneinander unterschiedlicher Aktionsformen, solange dabei Gewalt gegen Personen ausgeschlossen war [4]. Vermutlich gilt dies auch für die aktuellen Klimaproteste, da durch den Ausschluss von Gewalt gegen Personen höchstens in geringem Umfang potenzielle Unterstützer:innen der Proteste abgeschreckt werden und gleichzeitig ein größeres Spektrum an Handlungsmotivationen und Handlungspräferenzen in die Protestmobilisierung einbezogen werden kann.
Dr. Simon Teune
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich Intervenierende Künste, Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin, und Gründungsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung
Wenn von Radikalisierung die Rede ist, wird in der Regel darunter verstanden, dass sich ein Einzelner oder eine Gruppe in einem Prozess befindet, an dessen Ende Gewalt gegen Menschen als legitime Form des Handelns angesehen wird und die Bereitschaft entsteht, Gewalt anzuwenden. Beides ist in der Klimagerechtigkeits-Bewegung nicht zu beobachten. Weder gibt es eine Strömung in der Bewegung, die Gewaltanwendung als legitim ansieht, noch gibt es ein Milieu, das bereit wäre, Gewalt anzuwenden. Das Fehlen einer solchen Position unterscheidet die Klimagerechtigkeits-Bewegung gerade von früheren sozialen Bewegungen. Alle relevanten Akteure haben sich auf gewaltlose Formen des Protestes festgelegt.
Umso erstaunlicher ist es, dass gerade der Eindruck vermittelt wird, die Bewegung wäre aus diesem Grund abzulehnen, mit höheren Strafen abzuschrecken oder durch den Verfassungsschutz zu beobachten. Hier werden gerade Grenzen verwischt. Und das kann gefährliche Folgen haben. Bislang zeichnet sich die Klimagerechtigkeitsbewegung durch ein hohes Vertrauen in die demokratischen Institutionen aus. Dieses Vertrauen droht durch unverhältnismäßige Maßnahmen zu bröckeln. Diese Erosion von demokratischer Substanz – also dass die Klimaaktivist*innen zunehmend in Frage stellen, ob die demokratischen Institutionen in der Lage sind, adäquat auf die Klimakrise zu reagieren – ist vielleicht eine zweite Dimension der Radikalisierung, die bislang noch unterbelichtet ist.
Dass so viele empfindlich auf die Proteste der letzten Generation reagieren, sagt mehr über unser Verhältnis zur Klimakrise aus als über das reale Geschehen auf der Straße. Offensichtlich ertragen viele nicht die offensichtliche Kluft zwischen der drohenden Entwicklung des Weltklimas und den unzureichenden politischen und ökonomischen Maßnahmen dagegen. Die Überbringer der Botschaft werden deshalb attackiert.
Die Klimagerechtigkeits-Bewegung unterscheidet sich noch in einem zweiten Punkt von früheren sozialen Bewegungen: Sie kann nicht darauf setzen, dass sich Veränderungen mit der Zeit durchsetzen, sondern der Kampf gegen die Klimakrise ist ein Kampf gegen die Uhr. Je länger eine wirksame Klimapolitik herausgezögert wird, desto kleiner werden die Spielräume demokratischer Gestaltung. Die Tatsache, dass die Uhr tickt und dass keine der bisherigen Aktionen – von Gerichtsprozessen über Großdemonstrationen bis hin zum zivilen Ungehorsam – bislang zu einem Umdenken in der Klimapolitik geführt haben, macht die Entwicklung der Klimagerechtigkeits-Bewegung auch nicht vergleichbar mit vorangegangenen Bewegungen. Es ist durchaus denkbar, dass die Frustration und die Angst vor der bedrohlichen Entwicklung eines Klimakollapses die Kalküle in der Bewegung verändert und dass einzelne oder auch kleinere Gruppen den Konsens der Gewaltfreiheit aufkündigen. Bislang zeichnet sich das aber nicht ab.
Wenn zurzeit skandalisiert wird, dass ein Teil der Klimagerechtigkeits-Bewegung durch Blockaden und die Besudelung von Kunst oder Parteizentralen auf die Notwendigkeit schneller und weitreichender Klimaschutzmaßnahmen hinwirken will, ist es wichtig, auf den größeren Kontext hinzuweisen. Zum einen sind wir trotz der bedrohlichen Situation weit entfernt vom Konfliktniveau früherer Auseinandersetzungen wie zum Beispiel den Konfrontationen um die Bauplätze von Atomkraftwerken oder Hausbesetzungen. Zum anderen ist aber auch absehbar, dass die Aktionen von heute historisch sicher anders eingeordnet werden, insbesondere weil in der Folge der Klimakrise Konflikte in einem neuen historischen Ausmaß bevorstehen. Die Verknappung von Wasser und Nahrungsmitteln sowie die zunehmenden Klimaextreme werden an vielen Orten der Welt gewaltsame Konflikte und Migrationsbewegungen auslösen. Zumindest dieser Trend ist mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagbar.
Beitragsbild: Protest von Scientist Rebellion in München, 6.4.2022. Foto: Stefan Müller (cc)
[1] Andres L et al. (2022): Wie viel Gewalt verursacht der Profifußball in Deutschland? ifo Schnelldienst.
[2] Haunss S et al. (2020): Fridays for Future – Die Jugend gegen den Klimawandel. Konturen der weltweiten Protestbewegung. transcript Verlag.
[3] Rucht D (2008): Anti-Atomkraftbewegung. In: Roth R et al.: Die Sozialen Bewegungen in Deutschland Seit 1945. Ein Handbuch. Campus Verlag.
[4] Leach DK et al. (2010): „Wichtig ist der Widerstand”: Rituals of Taming and Tolerance in Movement Responses to the Violence Question. In: Heßdörfer F et al.: Prevent and Tame. Protest under (Self-)Control.