Wie bei vielen anderen Großdemonstrationen darf auch im Rückblick auf die jüngsten Proteste gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA wieder gerätselt werden, wie viele Menschen am 17. September 2016 auf der Straße gegangen sind. Bezogen auf die zeitgleichen Veranstaltungen in sieben Städten sprachen die Organisatoren von 320.000, die Polizei von „insgesamt mindestens 180.000 Teilnehmern“ (Zeit Online). Die Wahrheit, so vermuten viele, wird irgendwo dazwischen liegen. Was soll’s?
Es lohnt sich allerdings, einen näheren Blick auf die Zahlen zu werfen. Zum Ersten handelt es sich durchaus um ein Politikum, ob man als Veranstalter viele oder wenige Demonstrierende vermelden kann. Das gilt für die Organisatoren von Pegida, die teilweise abstrus überhöhte Zahlen berichteten; das gilt auch für etliche Proteste des linken bzw. „progressiven“ Lagers.
Zum Zweiten ist zu beobachten, dass es einen auffälligen Zusammenhang zwischen der redaktionellen Linie mancher Publikationsorgane und den von ihnen publizierten Zahlen gibt. Linke Organe neigen bei linken Demonstrationen dazu, die Höchstwerte zu nennen; eher konservative Organe greifen zu Niedrigangeboten, bleiben vage oder schweigen zu diesem Thema.
Zum Dritten ist es ein anhaltendes Ärgernis für Berichterstatter, die um Faktentreue und Genauigkeit bemüht sind, immer wieder mit stark voneinander abweichenden und meist schwer nachprüfbaren Zahlen konfrontiert zu werden. Vielleicht liegt die Wahrheit gar nicht in der Mitte, sondern nahe am oberen oder unteren Rand der Schätzungen, vielleicht – wenngleich in seltenen Fällen – sogar jenseits davon.
Am eindeutigsten scheint die Lage, wenn Veranstalter und Polizei mit ihren Angaben übereinstimmen – so bei der Berliner Demonstration am 17. September. Beide Seiten vermeldeten 70.000 Teilnehmer. Doch selbst hier ist Vorsicht geboten, heißt es doch in einer Twitter-Meldung der Berliner Polizei:
In Abstimmung mit dem Veranstalter zählten wir heute bei der #ttipdemo rund 70.000 Teilnehmer als Spitzenwert.
— Polizei Berlin Einsatz (@PolizeiBerlin_E) September 17, 2016
Dabei bleibt offen, welche auf welcher Grundlage ermittelten Zahlen den Ausgangspunkt für die „Abstimmung“ bildeten. Das ist kein Einzelfall, konnte ich doch selbst im Jahr 2004 erleben, wie sich der Organisator einer Berliner Demonstration mit einem zuständigen Polizeioffizier innerhalb von wenigen Sekunden auf einen Mittelwert zwischen stark voneinander abweichenden Zahlen einigte. Die politische Öffentlichkeit, die um solche Verhandlungen nicht weiß, wird im Falle der jüngsten Berliner Demonstration von einer gesicherten, da doppelt bestätigten Zahl von 70.000 Teilnehmern ausgehen.
Allerdings: Auch wir vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung haben gezählt. Auf der Basis eines bewährten und konservativ gehandhabten Verfahrens, das zu beschreiben mehr Raum beanspruchen würde, kamen wir auf gut 22.000 Teilnehmer während der Auftaktkundgebung (unsere etwa 40 Minuten währende Zählung begann eine halbe Stunde nach Beginn der Veranstaltung). Beim anschließenden Demonstrationsmarsch ermittelten wir im Verfahren der Reihenzählung für vier Stichproben von jeweils zwei Minuten die ungefähre Zahl der jeweils Vorbeiziehenden. Diese Einzelwerte bildeten die Basis für eine Hochrechnung aller Personen, welche während 57 Minuten, gemessen von der Spitze bis zum Ende der Kolonne, an unserem fixen Ort der Beobachtung vorbeigegangen sind. Zur Kontrolle haben wir dreimal für jeweils eine Minute die Vorbeiziehenden – bei einer mittleren Marschgeschwindigkeit und Menschendichte – anhand von Videoaufzeichnungen gezählt und kamen zu ähnlichen Werten.
Unsere Zählungen bzw. Schätzungen sind konservativ; wir nennen relativ gesicherte Zahlen, zu denen man bei großzügigerer Rechnung 10 bis 15 Prozent addieren kann. Aber auch dann ergäbe sich mit höchstens 30.000 Teilnehmern in Berlin eine auffällige Diskrepanz zu den mehr als doppelt so hohen Angaben von Polizei und Veranstaltern.
Ort | Veranstalter | Polizei | Beobachter | Abweichung Veranstalter-Beobachter in Prozent |
Hamburg | 65.000 | 30.000 | 40.000 | 62,5 |
Berlin | 70.000 | 70.000 | 30.000 | 133,3 |
Köln | 55.000 | 18.000 | – | – |
Leipzig | 15.000 | – | 12.000 | 25 |
Frankfurt | 50.000 | 25.000 | 20.000 | 150 |
Stuttgart | 40.000 | 20.000 | 30.000 | 33,3 |
München | 25.000 | 20.000 | – | – |
Gesamt | 320.000 | 183.000 ohne Leipzig | 132.000 ohne K & M |
[Quellen für die Zahlen der Beobachter: Berlin und Frankfurt: Institut für Protest- und Bewegungsforschung, Leipzig: Durchgezählt, Stuttgart: Hannah Arendt Institut für politische Gegenwartsfragen, Hamburg: tageszeitung]
Eine ähnliche Kluft offenbarte sich bei der Frankfurter Demonstration, bei der die Veranstalter von 50.000, die Polizei von 25.000 Teilnehmern sprachen, Beobachterinnen unseres Instituts dagegen rund 18.600 (Protestmarsch) bzw. 20.000 Teilnehmer (Kundgebung) schätzten. In Hamburg sprach die Polizei von 30.000 Demonstrierenden, während eine Gruppe aus dem Kreis der Organisatoren aufgrund dreier verschiedener Zählmethoden jeweils eine Zahl von 65.000 ermittelte und deshalb ihre Angabe für „verlässlich“ erklärte. Geringer war dagegen die Kluft zwischen der polizeilichen Schätzung in Leipzig (15.000 Demonstrierende) und den Angaben der Gruppe „durchgezählt“ (9-12.000).
#StopCetaTTIP Demo zieht aktuell mit 9000-12000 Menschen über den Innenstadtring von #Leipzig. #le1709 pic.twitter.com/Q7PovV3hx2
— Durchgezählt (@durchgezaehlt) September 17, 2016
Derartige Abweichungen wären nur dadurch aufzulösen, dass die jeweiligen Schätz- und Zählverfahren offen gelegt und, wie von der Leipziger Gruppe „durchgezählt“ gelegentlich praktiziert, in Gänze per Video dokumentiert und damit nachprüfbar werden. Ein anderes Verfahren bestünde in einer Auszählung bzw. Hochrechnung auf der Basis von Luftbildern, wie es inzwischen bei Großdemonstrationen in den USA, vereinzelt auch in Deutschland praktiziert wird.
Ein Blick auf die Berichterstattung zum 17. September zeigt, wie unterschiedlich Medien mit dem Zahlenangebot umgehen. Manche Berichterstatter sind vorsichtig und sprechen von „Zehntausenden“ von Menschen, ohne dabei präziser zu werden (ARD-Tagesthemen am 17.9.). Ebenso ist in der ARD-Tagesschau ist von „Zehntausenden“ die Rede (ARD-Tagesschau am 17.9.). Allerdings werden dort zusätzlich die Angaben der Veranstalter wie auch die der Polizei genannt. Im Bericht von ZDF heute ist von „mehr als 100.000“ die Rede. Zudem wurden dort Zahlen der Polizei zu Demonstrationen in einzelnen Städten, nicht aber die Angaben der Veranstalter erwähnt, die besonders in Köln mit 18.000 (Polizei) und 55.000 (Veranstalter) stark divergieren. Dagegen ist die Abweichung in München mit 20.000 (Polizei) und 25.000 Demonstrierenden (Veranstalter) relativ gering.
Die tageszeitung aus Berlin, die dem Anliegen der Demonstrierenden gewiss sympathisierend gegenüber steht, kommt zu anderen Zahlen. In einem Online-Artikel vom 17.9. ist von insgesamt „weit über 150.000 Menschen“ die Rede. Ein nachfolgender Bericht in der Ausgabe vom 19.9. nennt auf Grundlage eines nicht näher erläuterten Verfahrens eine Gesamtzahl von „rund 200.000“ Menschen, also deutlich weniger als die Angabe der Veranstalter mit 320.000 Demonstrierenden.
Bemerkenswert sind die Versuche mancher Medien, die Demonstrationen möglichst klein oder sogar als ein tendenziell gescheitertes Unternehmen erscheinen zu lassen. „Zehntausende bleiben fern. Hälfte der Demos verregnet“ lautet die Titelzeile einer Online-Meldung der Gruppe Welt N24. Im Artikel wird hervorgehoben, die Polizei in Berlin habe „bis zum Nachmittag mehr als 40.000 Menschen“ gezählt, „obwohl im Vorfeld mit 80.000 bis 100.000 Teilnehmern gerechnet worden war.“ Summarisch wird ergänzt, an den Demonstrationen in sieben Städten hätten sich „Zehntausende“ beteiligt.
Dass mit Zahlen Politik gemacht wurde, ist nicht neu. Bei einer großen Berliner Wahlrechtsdemonstration am 6. März 1910 sprachen die Organisatoren von bis zu 30.000 Teilnehmern, während der damalige Polizeipräsident von Jagow behauptete, aufgrund „sorgfältiger Nachprüfungen“ habe sich eine Zahl von „nur 2.000“ ergeben. Zahlenspiele dieser Art sind zudem keine Besonderheit Deutschlands. Zum Jahrestag der Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking im Jahr 1989 zählten die Veranstalter der Kundgebung in Hongkong im Juni 2016 laut South China Morning Post etwa 125.000, die Polizei dagegen 21.800 Demonstranten. Was soll’s?
Prof. em. Dr. Dieter Rucht ist Research Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Vorsitzender des Vereins für Protest- und Bewegungsforschung. Kontakt: dieter.rucht@wzb.eu
Foto: Stop CETA|TTIP-Demonstration in Berlin, Jakob Huber / Campact (CC-BY-NC 2.0)
1 Gedanke zu „Zahlenspiele – Wie viele haben demonstriert?“
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