Spaziergang zum Umsturz. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Querdenken Proteste

Ort: Hamburger Institut für Sozialforschung

Zeit: 16.-17. Juni 2022

Die Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen im Umgang mit der Corona-Pandemie haben die öffentliche Diskussion der letzten zwei Jahre stark geprägt. Mit wechselnden Bezeichnungen, als Corona-Leugner, Querdenkerinnen und schließlich Spaziergänger waren sie ein wiederkehrender Anlass für Berichterstattung und ein Gradmesser der Positionierung zu den Maßnahmen. Das Phänomen der Querdenken-Proteste hat Verwirrung gestiftet mit unterschiedlichen regionalen Zusammensetzungen, einem Bündel verschiedener und zum Teil widersprüchlicher Motivationen, mit der rasanten Radikalisierung bis zu tätlichen Angriffen auf Polizei, Gegendemonstrant*innen und journalistische Beobachter*innen.

Auch für die Wissenschaft sind die Querdenken-Proteste erklärungsbedürftig. Mittlerweile beschäftigen sich zahlreiche kleinere und größere Forschungsprojekte mit ihnen. Die Tagung „Spaziergang zum Umsturz“ bringt diese Forschung zusammen, um das Phänomen besser zu verstehen und es in breitere gesellschaftliche Entwicklungen einzuordnen.

Während der Tagung wird die Diskussion entlang von drei Schwerpunkten gegliedert sein:

Epistemischer Widerstand. Die Querdenken-Proteste bauen auf einer spezifischen Denkweise auf, die den politisch Verantwortlichen sinistre und geheime Motive unterstellt die sie im Bündnis mit einem willfährigen professionellen Journalismus verfolgen. Die Maßnahmen selbst werden so zum Vorzeichen oder Beleg einer Diktatur, der Widerspruch dagegen wird zum Akt des Widerstands überhöht. In der Auseinandersetzung mit dieser Form epistemischen Widerstands (Carolin Amlinger) ergeben sich folgende Fragen: welche Vorstellungen von Kritik, Widerstand und gesellschaftlichen Machtverhältnissen finden sich bei den Protesten? Wie prävalent sind Antisemitismus, Verschwörungsglauben und Umsturzerzählungen? Wie haben sich diese Vorstellungen entwickelt und welche Kontinuitäten lassen sich beobachten?

Grenzverschiebungen. Das Motiv der Infragestellung und Verschiebung von Grenzen kommt bei den Querdenken mehrfach zum Tragen: inwiefern werden die Proteste strategisch genutzt, um autoritäre und libertäre Vorstellungen gesellschaftlich breiter zu verankern? Wie agiert die extreme Rechte und wie wird sie innerhalb der Protestmilieus wahrgenommen? Welche Narrative führen zur Legitimation und Akzeptanz von Gewalt? Wie kommt es zum Geltungsverlust der Spielregeln gesellschaftlicher Konfliktaustragung? Die Diskussion soll ergründen, welche Strategien und Legitimationsversuche mit diesen Grenzverschiebungen verbunden sind und wie sie im Protestmillieu und jenseits davon wahrgenommen werden.

Konstellationen. Die Querdenken-Proteste waren auch deshalb schwer zu greifen, weil sie an verschiedenen Orten Beteiligten in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen zusammengebracht haben. Zu klären ist, wie die zum Teil unerwarteten Konstellationen zustande kommen und wie die Protestgruppen mit verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren zusammenwirken. Wie unterscheiden sich Akteure und Narrative regional? Welche Allianzen finden sich in den Protesten lokal und translokal, auch über die Protestmilieus hinaus (z.B. Künstler*innen (#allesdichtmachen) oder Verwaltung (Beteiligung von kommunalen Amtsträgern))? Welche Reaktionen zeigen sich in Zivilgesellschaft, Medien und Politik?

Die akademische Debatte wird ergänzt durch eine öffentliche Podiumsdiskussion am Vorabend der Tagung, bei der der gesellschaftliche Umgang mit den Querdenken-Protesten und den dahinter liegenden Entwicklungen diskutiert werden soll.

Dokumentation von Eröffnungsvortrag und -diskussion

Programm

Donnerstag, 16. Juni 2022

19.00-21.00 Uhr     Diskussion

Keynote von Oliver Nachtwey (Uni Basel) und Podiumsdiskussion mit: Oliver Nachtwey, Kim Kristin Mauch (NDR, Redaktion ZAPP) und Tahera Ameer (Amadeu Antonio Stiftung)

Freitag, 17. Juni 2022

09.00-09.30 Uhr     Ankommen, Kaffee

09.30-11.00 Uhr     Session 1: Epistemischer Widerstand

  • Anna Schwenck, Siegen: Soziale und politische Dimensionen pandemieskeptischer Mindsets? Eine Analyse von Protest-Symbolik und -Performance
  • Alexander Harder, Lüneburg: Autoritär und Freiheitlich? Ablehnungskulturen in der Corona-Krise
  • Christine Hentschel, Hamburg: Affective Devices für die Erforschung diffuser Protestbewegungen

 11.00-11.20 Uhr     Pause

11.20-12.50 Uhr     Session 2: Grenzverschiebungen

  • Fabian Virchow, Düsseldorf: Die Bewegung der Pandemieleugnung und die extreme Rechte: Dissonanzen und Konsonanzen
  • Leslie Gauditz, Hamburg, Teresa Koloma Beck, Hamburg, und Thomas Hoebel, Hamburg: „Ihr seid die echten Faschisten“ – Kategoriale Verhandlungen in der coronamaßnahmenkritischen Szene
  • Eddie Hartmann, Hamburg: Die Querdenken-Proteste als diskursive Gelegenheitsfenster für rechte Verschwörungsmythen

12.50-14.00 Uhr     Mittagspause

14.00-16.00 Uhr     Session 3: Konstellationen

  • Alexander Leistner, Leipzig: „Ein Hauch von Wendestimmung!“ – zur Gegenwart der Geschichte in den ostdeutschen Querdenken-Protesten
  • Sebastian Koch, Konstanz: Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“: Protestierende und Praktiken auf den Konstanzer Kundgebungen
  • Manès Weisskircher, Oslo: Die Bewegungspartei-Strategie der AfD und ihre Beziehungen zu Querdenken
  • Klaus Neumann, Hamburg: Dialogangebote und die Requisition öffentlicher Räume: Reaktionen auf „Hygiene-Demos“ in der Sächsischen Schweiz im Nachgang der sogenannten Flüchtlingskrise

16.00-16.20 Uhr     Kaffeepause

16.20-17.20 Uhr     Abschlussdiskussion mit Impuls von Teresa Koloma Beck

Die Tagung wird in Kooperation zwischen der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, dem Hamburger Institut für Sozialforschung und dem Institut für Protest- und Bewegungsforschung durchgeführt. Verantwortlich für die Organisation sind Eddie Hartmann und Simon Teune.

Abbildung: Screenshot aus dem Livestream des Medienaktivisten Elijah Tee vom Spaziergang gegen die Corona-Maßnahmen in Freiberg, 15.5.2021

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