Auf unserem Blog stellen wir in unregelmäßigen Abständen Buchpublikationen von ipb-Mitgliedern vor. Den Anfang macht Janna Vogl mit einer Rezension zu Social Theory and Social Movements. Mutual Inspirations (2016, VS), herausgegeben von Jochen Roose und Hella Dietz. Neben Jochen Roose sind mit Britta Baumgarten und Peter Ullrich weitere ipb-Mitglieder vertreten.
Die Rezension erschien ursprünglich unter dem Titel „Jenseits von Framing und co“ in Heft 4/2017 des Forschungsjournals Soziale Bewegungen.
Auf das Bedürfnis, theoretische Blindstellen der Bewegungsforschung zu überwinden, reagiert der von Jochen Roose und Hella Dietz herausgegebene Band „Social Theory and Social Movements. Mutual Inspirations“. Er ist das Ergebnis mehrerer Workshops, die im Rahmen des Nachwuchsnetzwerkes „Neue Perspektiven auf soziale Bewegungen und Protest“ stattfanden und bereits eine Publikation zu kultursoziologischen Perspektiven auf Protest und soziale Bewegungen (Baumgarten et al. 2014) hervorbrachten. Die einzelnen Beiträge greifen diverse gesellschaftstheoretische Perspektiven auf und fragen nach der gegenseitigen Befruchtung von Aspekten der jeweiligen Theorie (-richtung) und Konzepten der Bewegungsforschung. Ziel dabei sei, so die HerausgeberInnen, nicht nur das Voranbringen der theoretischen Fundierung der Bewegungsforschung, sondern auch, aus der Perspektive der Bewegungsforschung einen Beitrag zu den jeweiligen gesellschaftstheoretischen Diskussionen zu leisten (7).
Von Butler bis Luhmann
Der erste Beitrag von Britta Baumgarten und Peter Ullrich erweitert das Konzept der diskursiven Gelegenheitsstruktur mit Rückgriff auf Foucaults Analyse von diskursiven Formationen. Über gängige framing-Ansätze hinaus würden so diskursive Konditionen, die bestimmte frames und Forderungen innerhalb einer sozialen Bewegung ermöglichten und dabei andere gar nicht erst sichtbar werden ließen, in den Blick geraten. Als zweiter Aspekt der Foucault’schen Theorie wird das Konzept der Gouvernementalität aufgegriffen. Baumgarten und Ullrich argumentieren, dass bestimmte (neo-liberale) Formen der Subjektivierung Protest gerade verhindern beziehungsweise Protestformen hervorbringen, die die diskursive Ordnung stützen, zum Beispiel solche, die selbst das „enterprising self“ zur Grundlage nehmen (20ff). Dorothea Reinmuths Auseinandersetzung mit den Begriffen Anerkennung und Performativität bei Butler schließt hier an. Ihre zentrale Frage ist, ob und wieweit „evading the power of the discourse“ (142) möglich ist. In Abgrenzung von Honneths Begriff der Anerkennung argumentiert Reinmuth aus einer Perspektive, die von dem diskursiven Ausschluss bestimmter Subjektpositionen ausgeht. Dabei sei es in einer solchen Perspektive gerade das partielle Scheitern von „acts of recognition“ (143), das emanzipatorische Wege eröffne, indem es einen Moment zur performativen Subversion dieser Ausschlüsse biete. Reinmuth macht deutlich, dass manche Dynamiken in Neuen Sozialen Bewegungen (insbesondere identity movements) gerade als Reaktion auf das „Dilemma der Anerkennung“ verstanden werden könnten (146ff). Während die bisher genannten Beiträge auf ein spezifisches Konzept von (diskursiver) Macht abstellen, um Möglichkeiten und Grenzen sozialer Bewegungen zu reflektieren, greift Lars Schmitt unter anderem Bourdieus Konzept symbolischer Gewalt auf. Mit Rückgriff auf die von ihm entwickelte Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten versteht er soziale Bewegungen als Teil eines umfassenderen Bereiches gesellschaftlicher Konflikte mit ähnlicher Ausgangsproblematik. Er behandelt drei Formen von Habitus-Struktur-Konflikten: competitive struggle within a field, habitus-structure conflicts within the social space and intrapersonal habitus-structure conflicts (69f). Die Formen, die diese Konflikte annähmen, legten nahe, dass Unzufriedenheit immer wieder latent bleibe und nicht zu offenem Protest führe. Die symbolische Gewalt, die die Grundlage solcher Habitus-Struktur-Konflikte bilde, führe auch dazu, dass soziale Bewegungen durch ihre Repräsentationsansprüche ihre eigenen Ausschlüsse verdeckten (70).
Mit einer völlig anderen Stoßrichtung als die bisher genannten Beiträge greift Anette Schnabel die Frage auf, wie produktiv ein Ansatz ist, der von einer klassischen Kosten-Nutzen-Kalkulation der TeilnehmerInnen sozialer Bewegungen ausgeht. Zuallererst, so Schnabel, legten Rational-Choice-Theorien die Unwahrscheinlichkeit von Protest nahe. Die Problematik kollektiver (collective) und gemeinsamer (common) Güter liefere eine mögliche Erklärung dafür, warum auch aus einem positiven Bezug auf spezifische Normen nicht unbedingt Engagement folge: Strategisch sinnvoller sei es, zu warten bis andere sich in sozialen Bewegungen organisierten, um diese Normen durchzusetzen (44). Schnabel diskutiert dann Rational-Choice-Ansätze, die versuchen, das Erscheinen sozialer Bewegungen als Überwindung der angesprochenen Problematik zu erklären (selective incentives, critical mass) und arbeitet zwei offene Anschlussstellen heraus: Die Frage der Attraktivität bestimmter Bewegungsziele beziehungsweise Ideologien und die Rolle von Emotionen.
Während Schnabel so den strategisch handelnden Akteur voraussetzt, stellt Jochen Roose Überlegungen dazu an, wie soziale Bewegungen durch das Befolgen spezifischer Skripte und Angleichungsprozesse (Isomorphie) statt durch das Erreichen der Bewegungsziele Legitimität unter den TeilnehmerInnen und vor der breiteren Öffentlichkeit erlangen können. Er rückt somit, im neo-institutionalistischen Duktus, die Zentralität institutionalisierter Skripte für das Handeln in „social movement organizations“ (119) in den Blick, statt Annahmen über die Rationalität dieses Handelns zu unterstellen.
Zwei weitere Texte vertreten Gesellschaftstheorien, die funktionale Differenzierung als Ausgangspunkt für soziale Bewegungen verstehen. Isabel Kusche argumentiert mit Bezug auf Luhmanns Systemtheorie, dass mobilisierende (mobilizing) und moralisierende (moralizing) Kommunikationen den Erhalt sozialer Bewegungen garantieren. Diese Kommunikationen gründeten immer auf der Distinktion Protestierende versus Gegenseite (protesters vs. opponents; 80). Die Entscheidungsstrukturen in funktional differenzierten Gesellschaften, für die die Differenz zwischen EntscheidungsträgerInnen und den von der Entscheidung Betroffenen zentral sei, seien somit Bedingung zur Möglichkeit dieser Distinktion. Auf dieser Grundlage, so Kusche, liege die Funktion sozialer Bewegungen in der Selbst-Beobachtung funktional differenzierter Gesellschaften, welche manchmal über Resonanzen in anderen Teilsystemen – wenngleich in der kommunikativen Logik dieser Systeme – zu schrittweiser Veränderung führen könne (88). Thomas Kerns Auseinandersetzungen mit Alexanders Theorie einer civil sphere schließen hier an. Mit Alexanders Begriffen (facilitation, destructive intrusion) argumentiert Kern – in Abgrenzung zu klassischen Theorien funktionaler Differenzierung (siehe Kusche), – dass funktionale Differenzierung soziale Bewegungen einerseits ermögliche, aber auch zur die Solidarität der civil sphere untergrabenden Expansion nicht-ziviler Sphären führen könne. Soziale Bewegungen hätten somit eine zentrale Rolle bei der Realisierung von Inklusion und Umsetzung von Normen, die jedoch aufgrund der exkludierenden Wirkung der binären Codierung des Diskurses der civil sphere (zum Beispiel „aktiv – passiv“) immer wieder kontingent sei (106f).
Der letzte Beitrag von Nick Crossley fragt mit Bezug auf verschiedene Typen der Netzwerkanalyse („whole networks“, ego-net), welchen Mehrwert diese Perspektive für die Erweiterung einiger der Grundfragen der sozialen Bewegungsforschung hat: Statt nur von den Aussagen der Beteiligten abhängig zu sein, könne auch über die Analyse von Netzwerkstrukturen gefragt werden, wie ex-/inklusiv soziale Bewegungen seien, welche internen Fraktionen es gebe, bei Längsschnittdaten auch, auf welche Weisen sich diese internen Zusammenhänge und Fraktionen veränderten. Ähnlich interessant, so Crossley, sei die Netzwerkanalyse für Versuche, die Mobilisierung (neuer) TeilnehmerInnen zu erklären sowie Entstehungsprozesse sozialer Bewegungen (als Netzwerke) nachzuvollziehen.
Impulse in zwei Richtungen?
Trotz der inhaltlich sehr heterogenen Beiträge wird der dem Band vorhergehende Diskussionszusammenhang deutlich. Ein wiederkehrendes Motiv ist – über soziologische Richtungskämpfe hinweg – gerade die Unwahrscheinlichkeit sozialer Bewegungen (Baumgarten und Ullrich, Schmitt, Schnabel, Reinmuth) sowie die Unwahrscheinlichkeit oder Fragilität ihres Erfolges (Kusche, Reinmuth, Kern). Eine Struktur, die inhaltliche Zusammenhänge zwischen den einzelnen Beiträgen herausstellt, wäre dennoch hilfreich gewesen. Dabei hätten auch die Anschlussstellen zur Weiterentwicklung von Theorien sozialer Bewegungen explizit gemacht werden können, die sich aus der Zusammenschau der Beiträge ergeben. Insgesamt macht der Band deutlich, wie nutzbringend der Dialog mit Gesellschaftstheorien ist, um die gängigen theoretischen Kurzschlüsse verschiedener Theorien sozialer Bewegungen zu überwinden. Dafür geben die Beiträge produktive Anregungen. Die gegenteilige Richtung der Befruchtung der soziologischen Theorie, die die Herausgeber auch versprechen, wird jedoch wenig systematisch ausgearbeitet.
Janna Vogl, Berlin
Literatur
Baumgarten, Britta/Daphi, Priska/Ullrich, Peter (Hg.) 2014: Conceptualizing Culture in Social Movement Research. Houndsmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Roose, Jochen/Dietz, Hella (Hg.) 2016: Social Theory and Social Movements. Mutual Inspirations. Wiesbaden: VS.
5 Gedanken zu „Rezension: Roose/Dietz (Hg.) 2016: Social Theory and Social Movements. Mutual Inspirations. VS“
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