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Protestforschung in Russland: Potenzial und Gefährdung

Seit 2018 schreiben Autor*innen des ipb in einer eigenen Rubrik des Forschungsjournals Soziale Bewegungen: “ipb beobachtet”. Die Rubrik schafft einen Ort für pointierte aktuelle Beobachtungen und Beiträge zu laufenden Forschungsdebatten und gibt dabei Einblick in die vielfältige Forschung unter dem Dach des ipb.

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Der folgende Text von Jan Matti Dollbaum erschien unter dem Titel “Bedrohte Artenvielfalt: Potenzial und Gefährdung der Protestforschung in Russland” im Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 35, Heft 3.2022. Jan Matti Dollbaum ist am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik und Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt der Universität Bremen tätig. Kontakt: dollbaum@uni-bremen.de

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Forschung über Protest und soziale Bewegungen im postsowjetischen Russland hat sich mit der jeweils dominanten Form des Protests über die Zeit gewandelt. In den 1990er Jahren, als Russland von politischen und wirtschaftlichen Krisen gezeichnet und Protest größtenteils von ökonomischen „grievances“ bestimmt war, standen Streiks in den Kohleminen und Industriebetrieben im Mittelpunkt des Interesses. Protestforschung war zu dieser Zeit Transformationsforschung und war damit von Fragen nach den Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion (Beissinger 2002) sowie nach den treibenden Kräften und Konsequenzen des Umbaus zur kapitalistischen Marktwirtschaft getrieben(Crowley 1997; Pleines 1999).

Mit der Ernennung Wladimir Putins zum Ministerpräsidenten im Jahr 1999 und, knapp fünf Monate später, kommissarisch zum Präsidenten, und dem Siegeszug der Partei „Einiges Russland“ wandelte sich auch der Blick auf Protest in Russland. Zunächst verschwand dieser weitgehend aus dem öffentlichen Raum – zumindest im Vergleich zu der Dimension, in der er die späten 1990er Jahre geprägt hatte (siehe dazu etwa Robertson 2007). Die Beruhigung des Protestgeschehens in dieser Zeit lag unter anderem an der Konsolidierung des Zentralstaates und insbesondere am wirtschaftlichen Aufschwung, der die größte Not linderte und so ökonomische Proteste weniger notwendig erschienen ließ. Proteste, die weiterhin stattfanden, konzentrierte sich anstatt auf Lohnrückstände wie in den 1990ern auf unmittelbare Probleme in der Nachbarschaft und Übergriffe des Staates in die Lebenswelt der Menschen. Mithin wandelte sich auch die Protestforschung von ökonomisch orientierten zu soziologischen und anthropologischen Ansätzen, wie sie beispielhaft in den von der pragmatic sociology geprägten Arbeiten von Carine Clément und Kolleg:innenzum Ausdruck kommen (Clément/Miriasova/Demidov 2010).[1]

Doch die Erforschung des Alltagsprotests legte schnell den Schluss nahe, dass sich dieser keineswegs immer auf den Schutz der unmittelbaren Umgebung beschränkte, sondern dass sich in ihm und den zahlreichen kleineren Bewegungen – etwa zum Mieter:innenschutz oder gegen höhere Importzölle auf asiatische Autos (Greene 2014) – schon Ansätze politischer Mobilisierungen zeigten, die begannen, das aufkommende autoritäre Regime in den Blick zu nehmen, auch wenn sie die Politik selten direkt adressierten (Clément 2008, 2015). Diese Phase fiel zusammen mit einem Wiederaufleben unmittelbar politischen Protests, der sich etwa in den „Märschen der Unzufriedenen“, den direkten Aktionen der Nationalbolschewistischen Partei[2] oder den Demonstrationen der Strategie-31 Bahn brach (Fenghi 2017; Gabowitsch 2016a; Horvath 2015). Letztere wies durch kleine, zweimonatliche Mahnwachen am 31. des Monats auf Artikel 31 der Verfassung hin, der das Recht auf friedliche und unbewaffnete Versammlung garantiert – ein Recht, das mit zunehmender Politisierung des Protests zusehends eingeschränkt wurde.

Analysen, die zum ersten Mal auf systematisch erhobene Protestereignisdaten zurückgreifen konnten, stellten sodann auch fest, dass sich insgesamt das Protestrepertoire in den 2000er Jahren von den disruptiven direkten Aktionen der 1990er, den Streiks, Besetzungen und Blockaden, hin zu symbolischen Märschen und Kundgebungen und die Themen von ökonomischen hin zu einerseits städtebaulichen und andererseits direkt politischen verschoben, die fehlende Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beklagten (Lankina/Voznaya 2015; Robertson 2013). Das damit einhergehende zunehmende Interesse der Politikwissenschaft an Protestforschung hatte zur Folge, dass auch die Proteste der 1990er Jahre noch einmal in neuem Licht betrachtet wurden. Anstatt der damals verbreiteten transformationsökonomischen Brille dominierte nun die politikwissenschaftliche; die Protestforschung zeichnete etwa die Machtarrangements zwischen Zentralstaat und den Regionen nach, in denen Protest oft ein Mittel der Gouverneure zur Erpressung Moskaus darstellte (Evans 2016; Robertson 2011).[3] Arbeiten zu den keineswegs verschwundenen Arbeiter:innenprotesten (etwa Gerasimova/Bizyukov 2018)wurden hingegen weniger breit rezipiert.

Den Schritt in den akademischen Mainstream vollzog die Protestforschung dann mit den Protesten gegen Wahlfälschungen vom Dezember 2011 und der infolgedessen aufkommenden Bewegung „Für faire Wahlen“ 2011-13. Als sich mit dieser Bewegung– und unmittelbar nach den Revolutionen des „arabischen Frühlings“ – zum ersten Mal im postsowjetischen Russland die Frage nach möglichen direkten Konsequenzen des Protests für die Machthaberstellte, wurde das politikwissenschaftliche Interesse weiter verstärkt (Gel’man 2013; Robertson 2013). Protest avancierte aber auch über die Politikwissenschaft hinaus zum angesagten Thema, nicht zuletzt unter russischen Studierenden der Soziologie und Anthropologie, die selbst an den Protesten teilgenommen oder sie wohlwollend begleitet hatten und parallel eine akademische Laufbahn begannen(siehe z. B. Aliukov et al. 2015). So wie die Proteste zahlreiche Menschen zum Aktivismus brachten (Dollbaum 2020; Zhuravlev/Savelyeva/Erpyleva 2020), brachten sie auch zahlreiche Kolleg:innen zu den Sozialwissenschaften.

Protestforschung als das „Handbuch des Diktators“?[4]

Die Proteste „Für faire Wahlen“ machten die Wahlen kaum fairer. Zwar ließ Putin für die anstehenden Präsidentschaftswahlen vom März 2012 Livestream-Kameras in jedem Wahllokal einrichten; außerdem wurden die Regeln zur Parteiregistrierung etwas gelockert und die 2004 abgeschafften Gouverneurswahlen wieder eingeführt. Doch insgesamt blieb die Bewegung gemessen an ihren Forderungen nach Neuwahlen und der Demokratisierung Russlands weit hinter ihren Zielen zurück. Daran hatten sicher auch strategische Fehler einen Anteil – siehe beispielsweise den etwas orientierungslosen „Koordinationsrat der Opposition“, der knapp ein Jahr nach Beginn der Bewegung ins Leben gerufen wurde und kaum einen Beitrag zu ihrer Stabilisierung leisten konnte (Gabowitsch 2016b) oder die oft voreiligen Parteigründungen, die die schwache Anbindung der Bewegung an Parteipolitik eher noch unterstrichen als dass sie sie beheben konnten (Lasnier 2018). Der Großteil der Erklärung für die geringen Erfolge der Proteste lag aber vermutlich in der systematischen Unterminierung von Ressourcenakkumulation oppositioneller Organisationen und potenzieller Verbündeter in der Wirtschaft, die Putin seit seinem Amtsantritt konsequent verfolgte.

Damit begegnete das im Aufbau befindliche russische autoritäre Regime präventiv den wichtigsten Erfolgsfaktoren der „Farbrevolutionen“ wie sie etwa 2003 in Georgien und 2004 in der Ukraine stattgefunden hatten (Finkel/Brudny 2012). Dazu zählten insbesondere eine gut vorbereitete und geschlossene Opposition (Beissinger 2011) und ein Wirtschaftssystem, das staatsunabhängige ressourcenstarke Akteure zulässt (Radnitz 2010), die im Falle einer Legitimationskrise des Machthabers Anreize haben, die Opposition zu unterstützen (Hale 2005). Es handelt sich also mit Russland um einen Fall des „authoritarian learning“ (Hall/Ambrosio 2017), bei dem Erkenntnisse aus anderen Ländern genutzt werden um die eigene autoritäre Herrschaft zu sichern. Diese Erkenntnisse wurden schon recht kurz nach den erfolgreichen „Farbrevolutionen“ in der sozialwissenschaftlichen Literatur diskutiert (siehe etwa Bunce/Wolchik 2006). Der Verdacht liegt daher nahe, dass die Wissenschaft – die zumeist wohlwollend auf die zunächst demokratisch wirkenden Revolutionen blickte – Ideen für autoritäre Regime lieferte, die bei der Verhinderung elektoraler Revolutionen halfen. Es ist allerdings nicht belegt, dass die Mitarbeiter:innen von Putins Präsidialadministration tatsächlich die politikwissenschaftliche Protestforschung zu Rate gezogen haben.

Protest und Opposition

Obwohl sie in einem strukturellen Umfeld stattfanden, in dem ein Regimesturz aufgrund der präventiven Maßnahmen sehr unwahrscheinlich war, riefen die Proteste von 2011–13 Hoffnungen auf eine Demokratisierung der russischen Politik auf den Plan, die auch an der Protestforschung nicht vorübergingen. Zwar zeigten einige Arbeiten die interne Heterogenität der Proteste (etwa Volkov 2012) und stellten heraus, dass mitnichten alle Demonstrierenden in Moskau Anhänger:innen eines repräsentativen Demokratiemodells waren (Chaisty/Whitefield 2013). Doch die politikwissenschaftliche Perspektive, die die Protestforschung dominierte, erlag streckenweise der Versuchung, Protest mit Opposition gleichzusetzen, also zumindest explizit zu unterstellen, dass Personen, die an politischen Protesten teilnehmen, auch selbst zur Opposition zählen (siehe beispielsweise Smyth 2020; Tertytchnaya/Lankina 2020).

Die Annahme einer derartigen Verquickung ist bei näherem Hinsehen nicht immer empirisch gerechtfertigt. Gabowitsch zum Beispiel unterstreicht in seinen Arbeiten die Vielgestaltigkeit der Motive, sich an Protest in Russland zu beteiligen, die er unter Rückgriff auf Laurent Thévenots „Regimes of engagement“ (Thévenot 2019) analysiert. Er stellt dabei heraus, dass Menschen sich häufig mit eigenen Zielen an großen Protesten beteiligen – Zielen, die von denen der Organisatoren bisweilen stark abweichen.

Doch die „Regimes of engagement“ gehen noch weiter, indem sie die in der westlichen Protestforschung oft implizit verankerte Vorstellung von Protestierenden als Kosten-Nutzen-Maximierer:innen mit klaren politischen Zielvorstellungen grundsätzlich infrage stellen. Neugier kann danach eine ebenso starke Protestmotivation sein wie der Wunsch nach politischer Veränderung. Und auch die zuweilen paradoxe Distanz vieler russischer Protestierender von etablierten Oppositionsakteuren, die doch dem Protest zu Aufmerksamkeit und Ressourcen verhelfen könnten, ist oft besser zu erklären, wenn man von der rationalistischen Grundannahme abrückt: „[Activists in Russia] are often extremely wary of telescoping their particular concerns into larger issues[…]. This may be because they are justifiably afraid that they will be hijacked for purposes that have nothing to do with them, […] with the sense that it really is just about this particular courtyard” (Gabowitsch 2016b, 25). Auch Carine Cléments (2008, 2010) soziologische Arbeiten zum Verhältnis von Protest und Opposition, in denen sie die langsame Herausbildung abstrakterer Motive bei zunächst ausschließlich von lokalen Missständen motivierten Protestierenden herausstellt, sind in dieser Beziehung erneut wichtig geworden – wenn auch zu wenig rezipiert.

Divers und reichhaltig

In der Forschung zu Protest und sozialen Bewegungen in Russland gibt es also deutliche Unterschiede in der Interpretation von Protest, die teils in der disziplinären Ausrichtung begründet liegen. Gleichwohl sind solche Differenzen selten so stark, dass sie den produktiven Austausch verhindern würden. Tatsächlich ist – zumindest aus der Innenperspektive – die Protestforschung zu Russland und dem postsowjetischen Raum von erstaunlicher interdisziplinärer Kooperation gekennzeichnet, die übrigens auch die ansonsten zuweilen hohen Barrieren zwischen qualitativer und quantitativer Grundausrichtung leichtfüßig überwindet. Durch die zumeist starke Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen russischstämmigen und ausländischen (meist europäischen und US-amerikanischen) Kolleg:innen war für das Feld eine Debatte über kolonialistische Aspekte der Wissensgenerierung innerhalb der Community bisher nicht zentral (siehe zum MENA-Raum Grimm 2022), wenn gleich genuin russische Forschung oft zwar methodisch hoch informiert ist aber noch stärker unter mangelnder Ressourcenausstattung zu leiden hat als westliche Forschungsbudgets.

Daneben war auch die Datenlage für lange Zeit beneidenswert – zumindest aus Sicht von Forscher:innen, die sich mit anderen autoritären Regimen beschäftigen. Obgleich die russische politische Führung seit den 2000ern auf dem Weg von einem „hybriden“ Regime zu einem modernen autoritären Regime unterwegs war und sukzessive die Spielräume für Opposition, politischen Aktivismus und unabhängige Medien verkleinerte, waren die Bedingungen für empirische Forschung lange Zeit gut: Es gab genügend Medien, die über Protest berichteten, es gab unabhängige Anbieter von Umfragen, und Feldforschung stellte kaum ein Problem dar. Dies resultierte in einer Vielzahl von Datensätzen, die für die Protestforschung auch über Russland hinaus von großem Nutzen waren und auch in Zukunft noch sein können.[5]

Dies zeigt sich am Beispiel der Protestereignisdaten. Wo die Forschung zu Protest in vielen anderen autoritären Regimen auf internationale Datensätze wie MMAD (Keremoglu/Hellmeier/Weidmann 2020) oder ACLED zurückgreifen muss, liegen für Russland gleich mehrere qualitativ hochwertige Datensätze vor (Lankina/Tertytchnaya 2020; Reuter/Robertson 2015). Diese basieren auf russischsprachigen, regionalen Quellen – zum Teil Medienberichte, aber auch aktivistische und parteipolitische Websites – und stellen einen Versuch dar, die Quellen zu diversifizieren und Bias zu reduzieren. Ein Vergleich einiger dieser Daten legt nahe, dass die regionalen russischen Protestereignisdaten weniger stark durch „issue attention cycles“ verzerrt sind als die russlandspezifischen Daten des MMAD-Projekts, das auf englischsprachiger Berichterstattung basiert (Dollbaum 2021).

Der Krieg und die Protestforschung

Russland war damit lange Zeit ein sehr fruchtbarer Kontext für empirische Forschung.Doch mit der deutlich angezogenen Repression seit der Inhaftierung Aleksei Navalnys im Frühjahr 2021 und spätestens mit der russischen Attacke auf die Ukraine im Februar 2022 ist auch für die Protestforschung in Russland ein neues Zeitalter angebrochen.Zum einen haben die Sanktionen der EU auch in der Wissenschaft zu einem Abbruch der meisten institutionalisierten Kooperationsbeziehungen geführt. Affiliationen mit russischen Universitäten, die früher die Forschung in Russland rechtlich abgesichert haben, sind zurzeit kaum vorstellbar. Zum anderen ist auch die Datenerhebung selbst aus verschiedenen Gründen deutlich erschwert und in Bezug auf bestimmte Datentypen so gut wie unmöglich geworden.

Erstens hat die russische Telekommunikationsaufsicht die Websites zahlreicher unabhängiger Medien blockiert. Dies geschah teils unter Berufung auf eine Anordnung, nach der Medien in ihrer Berichterstattung zum Krieg ausschließlich auf offizielle russische Quellen Bezug nehmen dürfen und teils auf Basis eines neuen Gesetzes, das die „wissentliche Verbreitung von Unwahrheiten“ über die Aktivitäten des russischen Militärs unter Strafe stellt. Dazu zählt auch die Bezeichnung der „militärischen Spezialoperation“ als Krieg. Mit der Schließung vieler unabhängiger Medien ist nicht nur die Hintergrundrecherche, sondern auch die Erhebung von Protestereignisdaten zumindest schwieriger geworden.

Zweitens erschwert das Gesetz auch die Rekrutierung von Interviewpartner:innen und Fokusgruppen sowie die Erhebung von Umfragedaten. Wer sich strafbar macht, nur indem er oder sie die falschen Vokabeln verwendet oder befürchten muss, dass die eigene politische Position Repression nach sich zieht, scheut mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vor Interviews und Umfragen zurück. Ein Listenexperiment aus den 2010er Jahren konnte belegen, dass damals die in Umfragen geäußerte Unterstützung für Putin größtenteils genuin war (Frye et al. 2017). Dies hat sich im Kontext des Krieges geändert: Anfang April 2022 ergab ein Listenexperiment, dass die tatsächliche Unterstützung für den Krieg um 20 Prozentpunkte niedriger liegen könnte als der in Umfragen ermittelte Wert (Chapkovski/Schaub 2022). Umfragen sind damit noch einmal deutlich unzuverlässiger geworden.

Drittens schließlich sind Protestforscher:innen in Russland auch direkt bedroht, weil auch sie potenziell zum Ziel von Repression werden können. Zahlreiche sind bereits ausgereist und versuchen, im Ausland an ihre Forschung anzuknüpfen. Je nach Disziplin und Methode ist der Feldzugang jedoch so zentral, dass die Emigration eine Umorientierung oder gar eine Aufgabe der akademischen Laufbahn bedeutet.

So ist der russische Krieg gegen die Ukraine zu einer existentiellen Herausforderung auch für die zuvor so diverse und empirisch reichhaltige Protestforschung in Russland geworden. Allein schon um weiterhin die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus und über Russland zu sichern, sollte uns die Unterstützung kritischer und bedrohter Kolleg:innen in Russland und die Förderung unabhängiger Medien eine besondere Aufgabe sein.

[1] Die Sozialproteste der 1990er Jahre und damit auch die ökonomische Grundierung der Protestforschung kehrten mit der Bewegung gegen die Monetarisierung sozialer Privilegien 2004/05 noch einmal zurück (Hemment 2009).

[2] Die Märsche der Unzufriedenen entsprangen einer Oppositionskoalition, der sich Liberale, Nationalist:innen und Linke anschlossen. Die im Jahr 2007 verbotene Nationalbolschewistische Partei und ihr schillernder Vorsitzender, der Schriftsteller und Aktionskünstler Eduard Limonov, spielten dabei eine wichtige Rolle. Politisch kombinierte diese Gruppe staatssozialistische bis stalinistische mit nationalistischen und imperialistischen Positionen und einer auf Schockelemente setzenden Punk-Ästhetik inklusive faschistischer Symbolik.

[3] Allison Evans (2016) zeigt in ihrer Arbeit beispielsweise, dass lokale Proteste in Städten, die ökonomisch direkt von Moskau abhängig waren, deutlich weniger Repression erfuhren, da die lokalen Behörden die Proteste als Ausdruck wirtschaftlicher Not nutzen konnten, um höhere Ausgleichszahlungen zu erwirken. Wo Protest jedoch das Funktionieren vom Zentralstaat unabhängiger Industrien störte, wurde er deutlich stärker unterdrückt.

[4] Siehe Bueno de Mesquita und Smith (2011).

[5] Zahlreiche davon finden sich unter www.discuss-data.net.

Literatur

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