2018 startet das Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) eine eigene Rubrik im Forschungsjournal Soziale Bewegungen. Unter der Überschrift „ipb beobachtet“ kommentieren Mitglieder des Instituts aktuelle Entwicklungen im Feld und in der Debatte über soziale Bewegungen. Der Titel der neuen Rubrik ist vor diesem Hintergrund bewusst mehrdeutig: Einerseits geben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Umfeld des IPB ihre Beobachtungen zu aktuellen Forschungsdebatten wieder. Andererseits dient die Rubrik auch dazu, der vielfältigen Forschung unter dem Dach des IPB einen Raum zu geben, sprich diese genauer zu „beobachten“. Die Beiträge der Rubrik sind nach der Veröffentlichung auch auf unserem Blog zu lesen.
Die Rubrik ist ein Produkt der engen Kooperation des Forschungsjournals Soziale Bewegungen und des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Verantwortliche Redakteure sind Jannis Grimm und Moritz Sommer, die neben ihrer Redaktionstätigkeit im Forschungsjournal beide im IPB organisiert sind.
Der folgende Text von Jannis Grimm erschien unter dem Titel „Das Ende des ‚Arabischen Frühlings‘ der Bewegungsforschung‘ im Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 30, Heft 3, S. 84-92. Jannis Grimm ist Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb). Er promoviert an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies zu Protest-Repressions-Dynamiken in Nordafrika. Gemeinsam mit Kolleg*innen aus Berlin und Göteborg leitet er seit Anfang des Jahres das SAFEResearch Projekt zur Entwicklung eines sozialwissenschaftlichen Handbuchs für sichere Feldforschung. Kontakt: jj.grimm@fu-berlin.de
Der „Arabische Frühling“ und die Protestforschung
Mit den Massenprotesten von 2011 rückte der arabische Raum endlich auch in den Fokus der Bewegungsforschung. Angesichts der flächendeckenden Abwesenheit des Phänomens „neuer sozialer Bewegungen“ im arabischsprachigen Raum hatten sich bis dato lediglich einige wenige Autor*innen des theoretischen Vokabular der Bewegungs- und Protestforschung im Kontext des Nahen Ostens bedient – zumeist um hierüber (mit gemischtem Erfolg) islamistische Bewegungen jenseits von kulturalistischen und rein ideologiebezogenen Ansätzen fassbar zu machen (etwa Hafez 2003; Wiktorowicz 2004). Daneben hatte eine eher mikro-soziologisch inspirierte Forschungstradition zur „Staatsanalyse von unten“ alternative Mobilisierungspotenziale in den Blick genommen, die sich unterhalb der organisatorischen Schwelle von sozialen Bewegungen und Massenprotesten abspielten. Ihre politischen Effekte leiteten überdies keine demokratischen Transitionen ein, trugen jedoch graduell zur Transformation sozialer Verhältnisse in der Region bei (Bayat 2010; Harders 2009). Bis zu den Umbrüchen 2011 fand diese Forschung aber wenig Anklang in der europäischen Bewegungsforschung, die im Nahen Osten letztlich einer elitenzentrierten Regimeforschung das Feld überließ (Grimm 2015: 100). Selbige behandelte die Region vor allem unter dem Gesichtspunkt autoritärer Stabilität und versuchte zu erklären, wie es den dortigen Autokraten gelang, dem globalen Demokratisierungsdruck zu widerstehen, indem sie sich als partizipative Regime mit demokratischen Fassadeinstitutionen neu erfanden.
Der wissenschaftliche Fokus auf die Resilienz und Anpassungsstrategien autoritärer Regime (für einen Überblick siehe Bank 2009) erklärt wohl auch in Teilen die Überraschung über das Hereinbrechen des „Arabischen Frühlings“. Die Ideologie-übergreifenden revolutionären Koalitionen aus Jugendlichen, Arbeiterschaft und politischen Aktivist*innen zeigten einerseits, dass den Regimen die Repression oder Kooptation oppositioneller Gruppen offensichtlich nur oberflächlich gelungen war. Gleichzeitig offenbarte die Mobilisierung breiter, zuvor als phlegmatisch und apolitisch geltender Bevölkerungsschichten aber auch die Forschungslücke, welche die fehlende Bewegungsforschung über Jahrzehnte in den theoretischen Rahmenwerken der Nahostforschung hinterlassen hatte. Mit den Massenprotesten, die in Tunesien ihren Anfang nahmen und von dort auf die Nachbarschaft übergriffen, änderte sich nicht nur das Bild des arabischen Raums als letzter Bastion des Autoritarismus. Aufgrund des plötzlichen Bedarfs an wissenschaftlicher Expertise zu den beobachteten Mobilisierungsprozessen bewirkten sie auch in der Bewegungsforschung eine regelrechte Goldgräberstimmung.
Gepaart mit der Anknüpfungsfähigkeit zu damaligen Themenkonjunkturen, etwa zur Occupy-Bewegung und den Platzbesetzungen der Anti-Austeritäts-Proteste in Südeuropa, wurde der „Arabische Frühling“ auch zu einem Frühling für die Bewegungsforschung. Dies schlug sich beispielsweise in großzügigen Finanzierungsmöglichkeiten für Forschungsvorhaben zu sozialer Mobilisierung im arabischen Raum nieder. Einige dieser Projekte versuchten den Brückenschlag zur Eliten- und Regimeforschung (z. B. Asseburg/Wimmen 2017; della Porta 2014). Andere stießen hingegen neue Debatten zur Affektivität, der Räumlichkeit und der Performativität von Protestcamps an (z. B. McCurdy et al. 2016; Pearlman 2013; Volpi/Jasper 2018). Überdies fanden die Revolutionen unter vielen jungen Protestforscher*innen Anklang, die sich aufgrund der vertrauten Protestrepertoires (Besetzung und Aneignung öffentlicher Plätze), der heterogenen und inklusiven Zusammensetzung (Arbeiter und Akademiker, Säkulare und Religiöse, Frauen und Männer jeden Alters) und der emanzipatorischen Frames (Freiheit, Partizipation, soziale Gerechtigkeit) mit den arabischen Freiheitsbewegungen identifizieren konnten. Die Hochkonjunktur der „Arabellion“ unter Doktorand*innen mündete letztlich in einigen exzellenten Promotionen, welche die Nahostforschung aus ihrem Nischendasein ins Zentrum der Bewegungsforschung holten (z. B. Donker 2013; Ketchley 2017; Ritter 2014).
Die beteiligten Wissenschaftler*innen wirkten überdies als internationale Multiplikator*innen für die Forderungen der Protestakteure und trugen mit ihrer Forschung dazu bei, dass jene als legitime Adressat*innen wahrgenommen wurden: Zwischen 2011-2013 etablierte sich ein reger Austausch zwischen westlichen Entscheidungsträger*innen und arabischen Aktivist*innen und Menschenrechtsorganisationen.[i] Häufig stellten Protestforscher*innen dabei die Kontakte her, empfahlen passende Ansprechpartner*innen oder begleiteten öffentliche Veranstaltungen wissenschaftlich. Dadurch zementierten sie indes das im letzten Beitrag zu dieser Rubrik beschriebene Bild der Bewegungsforschung als politischer Wissenschaft, die ihrem Forschungsfeld im Kontext des „Arabischen Frühlings“ nicht nur „mit offener Sympathie“ gegenüber (Teune/Ullrich 2018: 418), sondern auch tatkräftig zur Seite stand. Verstärkt wurde dieser Eindruck dadurch, dass ein Großteil der Literatur über die Umbrüche aus der Feder von Autor*innen stammte, die über Nacht eine neue Region „für sich“ entdeckt hatten und über begrenzte Vorerfahrungen mit den lokalen Forschungskontexten verfügten.
Katerstimmung in der Nahostforschung
Im Zuge der „politischen Restauration von oben“ (Harders 2017: 328), die dem „Arabischen Frühling“ folgte, erfuhr das Umfeld für sozialwissenschaftliche Forschung schließlich dramatische Veränderungen. Vor den Umbrüchen von 2011 waren Wissenschaftler*innen als lästige Einmischung empfunden worden. Die meisten autoritären Machthaber – erpicht darauf, sich einen quasi-demokratischen Anstrich zu verleihen – hatten ihre Forschungstätigkeit aber als liberales Feigenblatt gegenüber der westlichen Gebergemeinschaft toleriert. Gegenüber den potenziellen Kosten einer Ausweisung oder Verhaftung kritischer westlicher Forscher*innen für die eigene internationale Legitimität war ihre Präsenz schlichtweg das kleinere Übel. Mit dieser Toleranzhaltung war es nach dem Intermezzo des „Arabischen Frühlings“ vorbei:
In einem Großteil der Transformationsstaaten und ihrer Nachbarschaft verengten sich die Möglichkeitsgrenzen vor allem für Projekte zu nicht-staatlichen Akteuren – Oppositionsparteien, kritischer Zivilgesellschaft oder sozialen Bewegungen – rapide. In Syrien, Libyen, Jemen und Irak verkomplizierten Krieg und Staatszerfall den Feldzugang. In Ägypten, Israel, am arabischen Golf, im Maghreb und in der Türkei wurden Forschende dagegen zur Zielscheibe staatlicher Repressionen. Ausschlaggebend für diese Trendwende war einerseits ihre oben beschriebene Vermittlerfunktion, aber auch ihre Rolle bei der Verbreitung von subalternem Wissen, welches die propagierten nationalistischen und versicherheitlichenden Narrative (Edel 2016) der neuen Autokraten in der Region als Propaganda entlarvte.[ii]
Bislang gibt es noch keine systematische internationale Dokumentation der Fälle, in denen Wissenschaftler*innen an ihrer Forschung gehindert, ihre Möglichkeit zu reisen unterbunden oder ihr Leib und Leben bedroht wurden.[iii] Betroffene Kolleg*innen haben aus nachvollziehbaren Gründen wenig Interesse, ihre Fälle öffentlich zu machen – einerseits, um sich den zukünftigen Feldzugang nicht durch mediale Aufmerksamkeit zu verbauen, andererseits, um ihre eigenen Kontakte vor Ort nicht zu gefährden. Aus denselben Gründen veröffentlichen auch die wenigen Nichtregierungsorganisationen, die Daten über die weltweite Einschränkung von Forschungstätigkeiten erheben, nur aggregierte Zahlen und selten Rohdaten, die Rückschlüsse auf Einzelschicksale zulassen. Dennoch zeichnen ihre Statistiken ein sehr deutliches Bild von der Lage im Nahen Osten und Nordafrika.
So erreichten die Hilfegesuche verfolgter Forscher*innen an das britische Council of At-Risk Academics 2016/2017 das höchste Niveau seit dem Zwangsexodus jüdischer Wissenschaftler*innen aus Europa in den 1930er Jahren.[iv] Verantwortlich für den massiven Anstieg auf 15-20 Anfragen pro Woche (von durchschnittlich 3-4 pro Woche vor den arabischen Umbrüchen) waren dabei vor allem die Verfolgung regimekritischer Wissenschaftler*innen in Syrien, die Inhaftierung von Akademiker*innen mit Verbindungen zur Muslimbruderschaft in Ägypten nach dem Militärputsch 2013 sowie die Suspendierung und Inhaftierung von Wissenschaftler*innen nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 in der Türkei.
Der Ausschuss für Forschungsfreiheit der amerikanischen Fachvereinigung Middle East Studies Association versandte im selben Jahr etwa doppelt so viele monatliche Protestnoten wie in den Vorjahren gegen die Kriminalisierung von Forscher*innen durch Regime in der Region. Ähnliche Tendenzen lässt auch der Academic Freedom Monitor des Scholars-at-Risk Netzwerks erkennen, in dem regelmäßig Fälle von Verstößen gegen Wissenschaftsfreiheit publiziert werden. Der diesjährige Education under Attack-Bericht der Global Coalition to Protect Education from Attack benennt gleich neun Staaten der Region als Brennpunkte für wissenschaftliches Arbeiten (Ägypten, Irak, Israel, Jemen, Libyen, Palästina, Sudan, Syrien, Türkei).
Regenis Ermordung als politisches Signal
Brutale Gewalt gegen einzelne Wissenschaftler*innen, die auch im Westen Aufmerksamkeit erfahren, wie die Ermordung des Gewerkschaftsforschers Giulio Regeni in Ägypten (Roll/Brozus 2017), sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Am 25. Januar 2016, dem fünften Jahrestag der ägyptischen Revolution, verschwand der Doktorand in Kairo. In der darauffolgenden Woche wurde sein Leichnam gefunden. Die Foltermale auf dem Körper des 28-Jährigen trugen die Handschrift des ägyptischen Sicherheitsapparats, der bis heute die Aufklärung des Mordes torpediert. Das Bezeichnende an Regenis Entführung und Ermordung war indes nicht das Opfer selbst. Bezüglich seines Verhaltens im Feld, seiner institutionellen Affiliationen, oder seiner persönlichen Merkmale stach Giulio Regeni kaum aus der Masse an Bewegungsforscher*innen in Nahost heraus. Selbst sein Forschungsthema – Gewerkschaftsbildung unter Kairoer Straßenhändlern – schien zwar sensibel, jedoch weit weniger riskant als das von Kolleg*innen, die z.B. über die kriminalisierten islamistischen Bewegungen oder die Schattenwirtschaft des Militärs schrieben. Doch gerade auf der hohen Repräsentativität von Regeni für das gesamte Forschungsfeld die (vermutlich beabsichtigte) Signalwirkung seiner Ermordung begründete: Es kann Jede*n jederzeit unvermittelt treffen. Zwar gab es seitdem keine weiteren derartigen Todesfälle (zumindest unter ausländischen Wissenschaftler*innen). Doch löste der Mord einen regelrechten Rückzug kritischer Bewegungsforschung aus dem Land aus. Insgesamt ähneln die Reaktionen denen nach der Säuberungswelle der türkischen Regierung gegen angebliche Unterstützter*innen der Gülen-Bewegung ab Sommer 2016: Etablierte Wissenschaftler*innen verließen fluchtartig das Land, Doktorand*innen weltweit wechselten ihren Länderfokus (bald dürfte es eine Fülle an Dissertationen zu Marokko und Jordanien geben) und Graduiertenschulen nahmen zeitweilig keine Projekte mehr an, die Feldforschung in Ägypten involvierten. Überdies führte der Fall zu einem Vertrauensverlust zwischen Bewegungsforscher*innen und ihren Forschungssubjekten: Regeni war von einem Interviewpartner aus der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung denunziert worden, der es im Kontext eines grassierenden neuen ägyptischen Nationalismus als seine Bürgerpflicht verstanden hatte, die Sicherheitsbehörden über die Aktivitäten des Wissenschaftlers zu unterrichten.
Wer konnte den Bewegungsforscher*innen versichern, dass Feldkontakte in anderen sozialen Bewegungen nicht ebenso von ihrer Scharnierfunktion Gebrauch machen würden und sich, etwa im Gegenzug für einen Abbau von Restriktionen oder finanzielle Vorteile, als Informanten verdingen würden? Die Frage wiegt umso schwerer, da die Verfolgung von Oppositionellen im Land seit Regenis Tod vorangeschritten ist, und mittlerweile nahezu alle Gewerkschaften, Oppositionsparteien und sozialen Bewegungen, die nach 2011 im Fokus der Protestforschung standen, ins Visier des Sicherheitsstaats geraten sind.
Ernüchternd waren überdies die internationalen Reaktionen auf Regenis Tod: Der halbherzige Aufklärungsdruck seitens italienischer Diplomaten sowie eine Kampagne der konservativen italienischen Presse gegen seine Doktormutter Maha Abdelrahman, eine renommierte Nahost-Bewegungsforscherin der Universität Cambridge[v], trugen zum Verlust des Sicherheitsgefühls unter vielen Wissenschaftler*innen bei, die sich bis dato auf die Rückendeckung ihrer Heimatinstitute und diplomatischen Vertretungen verlassen hatten. Deren Reaktionen schienen indes das Gegenteil zu belegen: Nicht lange, da wurde aus dem Vorwurf, Abdelrahman habe bei Regenis Betreuung ihre Führsorgepflicht verletzt, ein Generalverdacht gegenüber allen, die im Nahen Osten und Nordafrika Politik von unten erforschten: Was hatten sie dort überhaupt verloren? Mit welchem Recht befassten sie sich mit denjenigen, von denen die arabischen Regime behaupteten, sie trieben Terrorismus und Staatszerfall voran?
Wachsende Verunsicherung
Es mutet besonders zynisch an, dass diese Vorwürfe (vermutlich unwissentlich) die Diktion arabischer Autokraten reproduzieren, wonach die Entsendung westlicher Forscher*innen in den arabischen Raum ohnehin nur eine Fortschreibung klassischer neo-kolonialer Asymmetrien darstellte, innerhalb derer der Globale Norden Herrschaftswissen über den Globalen Süden produzierte. Gepaart mit den in der kleinen Nahost-Forschungs-Community verbreiteten Anekdoten über weitere Repressalien im Feld [vi] entstand so ein Klima der Angst (oder zumindest der Unsicherheit), das bei der Protest- und Bewegungsforschung im Zeitraum nach dem „Arabischen Frühling“ letztlich einen massiven Konjunktureinbruch bewirkte.
Das Projekt SAFEResearch, das sich mit der Entwicklung eines Handbuchs für sichere Feldforschung befasst und an dem sich mehr als 30 Wissenschaftler*innen beteiligen (siehe unten), hat hierzu Erfahrungswerte gesammelt. Diese offenbaren vor allem drei Herausforderungen, mit denen Wissenschaftler*innen mit Interessensschwerpunkt auf zivilgesellschaftlichen Akteuren konfrontiert und bisweilen alleine gelassen werden. Neben Selbstschutz und angemessenen Vorbereitungen auf die Risiken von Feldforschung in einem sich ständig verändernden Nahen Osten, in dem die roten Linien – anders als vor 2011 – eben nicht länger klar sind, betreffen sie vor allem den Schutz von Informant*innen.
Eine offene und nicht zuletzt forschungsethische Frage ist hier, ob sich unter den gegenwärtigen Bedingungen größerer Aufmerksamkeit von Sicherheitsapparaten Kolleg*innen oder auch private Kontakte vor Ort noch angemessen schützen lassen. Ohnehin sind es vor allem lokal ansässige Forscher*innen, die am stärksten von Repression betroffen sind. Wie lässt sich das zusätzliche Augenmerk des Polizeistaats legitimieren, das der „akademische Tourismus“ (Abaza 2011) aus dem Globalen Norden für lokale Wissenschaftler*innen mit sich bringt? Zudem ist es ja nicht die Forschung, die am meisten von autoritären Unterdrückungsmaßnahmen betroffen ist. Weit gefehlt: Wenn schon Mitglieder deutscher und amerikanischer Universitäten um ihre physische und psychische Unversehrtheit fürchten, wie steht es dann um all die professionellen Bekanntschaften vor Ort, mit denen sie sich austauschen und die als Interviewpartner*innen, Fahrer*innen oder Vermittler*innen fungieren?
Sicher ist es schwierig abzuschätzen, inwieweit allein die zusätzliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit Feldkontakte in Gefahr bringen kann. Doch bleibt die Frage zu diskutieren, ob es Forschungsvorhaben gibt, deren Durchführung im Kontext autoritärer Repression schlichtweg nicht mehr moralisch vertretbar ist. Diese Entscheidungen müssen nicht zuletzt auch auf institutioneller Ebene verhandelt werden, um Wissenschaftler*innen – von Promovierenden bis hin zur Projektleiter*innen – besser auf die erschwerten Kontextbedingungen für Feldforschung vorzubereiten. Der Nahe Osten und Nordafrika bieten hierfür nicht das einzige Beispiel, derzeit aber wohl das offensichtlichste.
Kontrolle statt Unterstützung
Damit kommen wir zur Gretchenfrage nach den bisherigen Reaktionen von Forschungseinrichtungen auf die Repression von Forscher*innen. Die Antwort ist größtenteils ernüchternd: Die Reaktion der großen europäischen und amerikanischen Universitäten und Think Tanks reichen von Ignoranz und einer strategischen Nichtbeachtung der veränderten Großwetterlage bis hin zur Rückkehr in die Komfortzonen aus der Zeit vor dem „Arabischen Frühling“. Damals beschäftigte sich der Großteil der Forschung mit statischen Regimetypen oder der Studie von Strukturvariablen auf der Makroebene. Der Vorteil hiervon: Wissenschaftler*innen müssen nicht mehr notwendigerweise vor Ort mit Bewegungsakteuren sprechen, sondern können eine ungefährlichere Außensicht auf die Nahostregime einnehmen. Die Crux: Genau diese Art von Forschung „aus der Vogelperspektive“ (Said 1978: 239) war über Jahrzehnte als neo-koloniale Form der Wissensgenerierung über „den Orient“ kritisiert worden.
Weitere Institutionen kontrollieren das Risiko, dass ihre Forschenden ins Visier des Sicherheitsstaats kommen könnten, dagegen durch mehr oder weniger formale Embargos für Feldforschungsaufenthalte in konfliktbehafteten Staaten. Prinzipiell ist diese Formalisierung kaum zu verurteilen, schließlich zeigt sie, dass sich die betroffenen Einrichtungen ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, wie sie ihr Personal wirksam schützen können. Reiseverbote oder Aufenthaltsbeschränkungen folgen meist der Einsicht, dass man als Universität wenig tun kann, um Studierenden und Wissenschaftler*innen in Notsituationen beizustehen. Sie sind somit vor allem Zeichen der Wahrnehmung einer institutionellen Sorgfaltspflicht. Dies gilt auch für Professor*innen, die sich – aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – nicht mehr in der Lage sehen, guten Gewissens noch Promotionsstudent*innen nach Libyen, Ägypten oder in die Türkei zu entsenden (umso weniger, wenn deren Arbeit auf Oppositionsakteure fokussiert) und daher individuell beschließen, solche nicht mehr zu betreuen.
Weitere renommierte Forschungseinrichtungen, darunter die School of African and Oriental Studies, die George Washington University oder das European University Institute, haben zwar von einem vollständigen Embargo abgesehen, dafür aber zuletzt die Genehmigungsprozeduren für Feldforschungsaufenthalte ihrer Mitglieder verschärft. Durch den prägenden Einfluss dieser Institutionen auf das Forschungsfeld fungieren sie dabei als Vorreiter einer Versicherheitlichung und Verrechtlichung von Feldforschung an anderen Universitäten. Der Grad der Bürokratisierung reicht dabei von der Pflicht zur Beantragung von Forschungsvisa (deren Erteilung z. B. im Falle Ägyptens für Forschung zu Protesten oder Zivilgesellschaft von vornherein ausgeschlossen ist) über den Abschluss von speziellen Risikoversicherungen für Konfliktgebiete (mit für öffentliche Universitäten nahezu unbezahlbaren Versicherungspolicen) bis hin zu hastig erarbeiten Antragsverfahren für Feldforschung. Letztere beinhalten zumeist Formblätter zur Bewertung von Sicherheitsrisiken, ohne dass aber den Antragsteller*innen gleichermaßen Kurse zur Aneignung sinnvoller Risikobewertungsstrategien gestellt werden. Mangels ausreichend informierter Fachgremien zur Bewertung der Anträge ist zudem abzusehen, dass es Antragssteller*innen meist gelingen dürfte, die Risiken im gewünschten Reiseland zu relativieren (hierfür schafft die Genehmigungspflicht letztlich einen nachvollziehbaren Anreiz). So bleibt Formalisierung von Feldforschungsprozeduren letztlich ein Feigenblatt, das trotz immensem strukturellen Aufwand kaum in der Lage ist, Forschende effektiv zu schützen.
Flächendeckend mangelt es weiterhin vor allem an verlässlichen Ressourcen, Informationsquellen und Weiterbildungsmöglichkeiten, durch die Forschende für Risiken von akademischer Feldforschung sensibilisiert oder in ihrem Umgang geschult werden. In Italien und Großbritannien (dem Heimatland bzw. dem Ausbildungsort von Giulio Regeni) sind zwar mittlerweile konzertierte Bemühungen zu erkennen, den wissenschaftlichen Nachwuchs an Universitäten besser auf die Unwägbarkeiten im Feld vorzubereiten. In Deutschland wird das Thema Forschungssicherheit dagegen – trotz medialer Aufmerksamkeit auf Einschränkungen akademischer Freiheit – bislang eher stiefmütterlich behandelt. Graduiertenschulen und Forschungsinstitute, die das Thema auf die Agenda gesetzt haben und ihren Mitgliedern ein spezielles Schulungsangebot anbieten, bilden die Ausnahme. Dass hierzu Institute wie die Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies, das Deutsche Institut für Wirtschaftspolitik, oder das Wissenschaftszentrum Berlin zählen, die in den letzten Monaten Sicherheitstrainings oder Seminare zur Feldvorbereitung abgehalten haben, ist kein Zufall: Es sind fast ausschließlich Einrichtungen, die entweder direkt oder indirekt über ihre Mitarbeiter*innen mit dem Fall Regeni zu tun hatten. Größtenteils eignen sich Nachwuchsforscher*innen ihr Wissen über potenzielle Risiken ihrer Arbeit jedoch weiterhin im Zuge ihrer Ausbildungserfahrung über die Ratschläge und Anekdoten von Kolleg*innen an. Dieser Erfahrungstransfer ist üblicherweise vertikal, d.h. von erfahreneren Mentor*innen zu jüngeren und unerfahrenen Forscher*innen. Horizontaler Austausch findet parallel aber auch zwischen Wissenschaftler*innen auf demselben Karrierelevel statt. Im besten Fall sind die so vermittelten Strategien nicht nur „felderprobt“, sondern auch noch nachhaltig wirksam und übertragbar. Im schlechtesten sind sie ineffektiv oder sogar kontraproduktiv (etwa weil sich der politische Kontext in einem Land seit der Felderfahrung einer Mentor*in verändert hat).
Perspektiven für die Bewegungsforschung im Nahen Osten und Nordafrika
Als Forschungsgemeinschaft sollten wir uns eingestehen, dass wir uns zu lange zu wenig und zu unsystematisch mit den potenziellen Risiken unserer Feldforschung auseinandergesetzt haben. Die gilt nicht nur für die Bewegungsforschung im arabischen Raum. Betroffen ist sie aber im besonderen Maße, weil ihr „Tun immer wieder als Politikum empfunden wird“ (Teune/Ullrich 2018: 418). Die verschlechterte Großwetterlage im Nahen Osten hat nicht nur Implikationen für disziplinäre Paradigmen (Pace/Cavatorta 2012), sondern auch praktische Konsequenzen für die Art von Forschung, die künftig noch in dieser Weltregion möglich ist: Für die Studie von Repression und autoritären Regimen mögen gerade wieder goldene Zeiten anbrechen und die Konfliktforschung ist seit der Internationalisierung der arabischen Bürgerkriege ebenfalls gut beschäftigt. Der Protest- und Bewegungsforschung im Nahen Osten dagegen steht eine Durststrecke bevor. Um diese zu überstehen, bedarf es einer Doppelstrategie: Einerseits erfordern die erschwerten Zugangsbedingungen eine Weiterentwicklung bestehender Methoden der Bewegungsforschung für den Nahen Osten und andere Konfliktregionen (Clark/ Cavatorta 2018). Jüngste Versuche von Politikwissenschaftler*innen der Universität Oxford, neue Verfahren der Datenerhebung für Protestevent-Kataloge sowie neue Ansätze zur Social Media-Analyse zu entwickeln, bieten hier bereits Ansatzpunkte (z.B. Barrie/Ketchley 2018; Kadivar/Ketchley 2018; Ketchley 2017). Gleichzeitig ist aber auch klar, dass der große Wert vieler Analysen, die im Nachgang der Massenproteste 2011 entstanden, vor allem in ihrer Detailtiefe lag und auf dem Zugang zu signifikanten Interviewpartner*innen und Primärquellen beruhte. Protesteventanalyse kann noch so weit ausgereift sein, sie wird nie alle relevanten Fragestellungen abdecken können.
Daher gilt es, zusätzliche Ressourcen anzubieten, auf die sich die Forschungsgemeinschaft stützen kann, die weiterhin zur Feldforschung in die Konfliktregionen Nordafrikas und des Nahen Ostens reist. Hier ist nicht zuletzt institutionelles Engagement gefragt: Auf der Mikroebene müssen Nahostwissenschaftler*innen selbst entscheiden, welche Risiken sie bereit sind einzugehen. Allerdings führt die mangelnde institutionelle Unterstützung dazu, dass sich derzeit viele von ihnen entweder anderen risikoärmeren Weltregionen oder anderen Forschungsthemen zuwenden. Individuell ist das angesichts der politischen Lage und der fehlenden Unterstützung nachvollziehbar. Für die Bewegungsforschung als Disziplin bedeute es nach einem kurzen Frühling aber unweigerlich die Entstehung neuer blinder Flecken im Nahen Osten. Strukturell gesehen ist das keine nachhaltige Lösung.
Anmerkungen
[i] Letztere hatten zwar nicht selbst politisch mobilisiert, trieben jedoch aktiv die Aufarbeitung von Repression und Polizeiverbrechen gegen oppositionelle Demonstrant*innen voran.
[ii] Der Begriff der Versicherheitlichung bezieht sich auf einen Prozess sprachlicher Bedeutungsprägung, durch den gewisse Themenfelder oder soziale Gruppen mit einer Bedrohung assoziiert werden. Bereits in den 1990er Jahren beschrieben Forscher der Universität von Kopenhagen, wie durch diesen Konstruktionsprozess (nicht nur in autoritären Regimen) verinnerlichte Normen und institutionalisierte Regeln des friedlichen Zusammenlebens transformiert werden. Im Namen der nationalen Sicherheit erscheinen plötzlich sicherheitspolitische Maßnahmen als legitim, die vorher undenkbar waren, so zum Beispiel der Einsatz von Soldaten gegen Demonstrierende in Ägypten. Für den deutschen Kontext haben Simon Teune und Peter Ullrich im letzten Beitrag zu dieser Rubrik den versicherheitlichenden Effekt des Extremismus-Paradigmas auf die Erforschung sozialer Bewegungen beschrieben.
[iii] Gemeinsam mit seinem Kollegen Ilyas Saliba arbeitet der Autor dieses Artikels derzeit an der Konzeption eines solchen Academic Freedom Index, um den Stand der Verstöße gegen die akademische Freiheit weltweit und staatliche Repressionen gegen Forschende und Studierende zu dokumentieren (siehe Grimm/Saliba 2017).
[iv] Abrufbar unter: http://www.cara.ngo/wp-content/uploads/2017/09/170912-CARA-AR-Final.pdf
[v] Eine Petition von fast 400 namhaften Nahostforscher*innen zur Unterstützung der Professorin gegen die Anfeindungen ist hier abrufbar.
[vi] Darunter kurzzeitige Festnahmen, Verleumdungskampagnen, Einreiseverbote, Hausarrests oder persönliche Drohungen gegen Familienangehörige oder Freunde.
Literatur
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Um den Risiken zu begegnen, denen sich Protest- und Zivilgesellschaftsforscher*innen in weiten Teilen des arabischen Raums, aber auch in immer mehr Staaten des globalen Südens ausgesetzt sehen, hat sich der Autor dieses Beitrags gemeinsam mit Kolleg*innen im internationalen Methodenprojekt SAFEResearch zusammengeschlossen. Das Projekt wird vom Riksbankens Jubileumsfond und dem Schwedischen Forschungsrat Vetenskapsrådet unterstützt und verfolgt das Ziel, ein interdisziplinäres Netzwerk zum wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch über sichere Methoden und Praktiken der Feldforschung in Konfliktgebieten und autoritären Kontexten zu etablieren. Bislang beteiligten sich hieran mehr als 30 Autor*innen, Reviewer*innen, Sicherheitstrainer*innen und Hilfskräfte. Koordiniert wurden deren Beiträge von Jannis Grimm (ipb/Freie Universität Berlin), Kevin Koehler (Universität Leiden), Ellen Lust (GLD/Universität Göteborg), Ilyas Saliba (Amnesty International/ Wissenschaftszentrum Berlin) und Isabelle Schierenbeck (Universität Göteborg), die das Projekt gemeinsam leiten.
In diesem Rahmen wird als erster Schritt hin zu mehr Austausch über Feldforschungsroutinen und zur Sensibilisierung für die wachsenden Risiken kritischer Wissenschaft derzeit ein Handbuch entwickelt, welches unter Rückgriff auf die Expertise von Bewegungs- und Konfliktforscher*innen, Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Cybersicherheits-Expert*innen „best practices“ für sichere Feldforschung systematisiert. Insgesamt 17 Autor*innen – darunter Nachwuchs-Forscher*innen ebenso wie etablierte Wissenschaftler*innen – bearbeiten in fünf zentralen Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven die Frage nach methodischen und ethischen Standards zur Minimierung von Risiken für konfliktbehaftete wissenschaftliche Forschung. Der erste Handbuchteil thematisiert dabei sinnvolle Schritte zur Vorbereitung und Planung, sowie die Durchführung von Forschungsprojekten in eventuell risikoreichen Kontexten, zu risikobehafteten Themen, oder mit potenziell durch die Forschung gefährdeten Gruppen: Wie können sich Wissenschaftler*innen besser auf Forschungsaufenthalte vorbereiten und Risiken für sich und ihre Interviewpartner im Vorfeld verlässlich abschätzen? Welche finanzielle, logistische oder didaktische Hilfe sollten ihnen universitäre Einrichtungen, Kolleg*innen und Betreuer*innen zur Seite stellen? Und wie ist mit Unabwägbarkeiten im Feld konkret umzugehen? Weitere Kapitel befassen sich mit Prozeduren zum Krisenmanagement und dem Umgang mit Situationen, in denen Forscher*innen oder ihre Feldkontakte zur Zielscheibe werden, sowie mit der Phase nach der Durchführung der Forschung. Sie reflektieren die möglichen psychologischen Folgen traumatischer Erfahrungen im Feld, wie auch die Frage nach sinnvollen Prozeduren zur Anonymisierung von Rohdaten. Ein separates Kapitel ist zudem Aspekten von Datensicherheit sowie praktischen Hilfestellungen zum Selbstschutz vor digitaler Überwachung gewidmet.
Nähere Informationen zum Projekt finden sich unter: http://gld.gu.se/en/research-projects/saferesearch/
Informationen über die laufenden Aktivitäten verbreitet das SAFEResearch Team zudem auch über Twitter: https://twitter.com/SAFEResearchPro/
4 Gedanken zu „Im Fadenkreuz: Bewegungsforschung im Nahen Osten und Nordafrika“
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