Mit dem Buch „Kollektive Proteste und soziale Bewegungen. Eine Grundlegung“, das gerade bei Beltz Juventa erschienen ist, fasst Dieter Rucht, Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender im Vorstand des Protestinstituts, seine über vierzigjährige Forschungsarbeit zu Protesten und sozialen Bewegungen zusammen. Im Gespräch mit Simon Teune erzählt er, was die Leser*innen erwartet.
Dieter Rucht
Kollektiver Protest und soziale Bewegungen. Eine Grundlegung
Weinheim: Beltz Juventa
ISBN 978-3-7799-6518-3, 240 Seiten, 28,00 Euro
Dieter, Du hast viele Deiner Gedanken zu sozialen Bewegungen jetzt in einem Buch zusammengefasst: „Kollektive Proteste und soziale Bewegungen. Eine Grundlegung“. Wie ist es dazu gekommen und was erwartet die Leser*innen?
Vor etlichen Jahren hat mich der Verlag Beltz Juventa angefragt, eine Einführung zum Thema Soziale Bewegungen zu schreiben. Ich habe damals zugesagt, aber die Umsetzung schleifen lassen. Erst aufgrund einer Erinnerung des Verlags im Jahr 2000 bin ich dann an die Arbeit gegangen. Das Buch ist eine Einführung in die Thematik, aber geht zugleich darüber hinaus, insofern alle mir zentral erscheinenden Dimensionen sozialer Bewegungen wie auch die Entwicklung des entsprechenden Forschungsfeldes behandelt werden. Das soll der Untertitel „Eine Grundlegung“, statt „Einführung“, andeuten. Ein mir willkommener Nebeneffekt des Buches besteht darin, dass ich damit diverse meiner Arbeiten zu einzelnen Aspekten sozialer Bewegungen bündeln und in eine umfassender angelegte Darstellung aufnehmen konnte.
Wie würdest Du Deine Perspektive auf soziale Bewegungen beschreiben?
Meine Sichtweise, die im letzten Kapitel des Buches nur angerissen wird, umschreibe ich mit drei Perspektiven: interaktionistisch, konstruktivistisch und prozessorientiert. In der gesellschaftstheoretischen Fundierung stütze mich vor allem auf Habermas, aber nehme in mehrfacher Hinsicht Revisionen seines Ansatzes vor. Zum Beispiel begreife ich die öffentliche, politische Sphäre, übrigens der zentrale Schauplatz sozialer Bewegungen, als einen eigenständigen Sektor. Dieser sollte nicht, wie bei Habermas, der Lebenswelt zugeschlagen werden. Meinen eigenen Ansatz, in dem ich unter anderem auch Überlegungen von Bourdieu und Giddens aufgreife, habe ich in einem in Kürze erscheinenden englischsprachigen Buch mit dem Titel „Social Movements: A Theoretical Approach“ dargelegt. Es gibt Überschneidungen zwischen beiden Büchern, aber sie verfolgen unterschiedliche Anliegen und weisen somit auch unterschiedliche Schwerpunkte auf.
Was sind für Dich die wesentlichen Faktoren, die die Dynamik und die Wirkung sozialer Bewegungen beeinflussen?
Generell gehe ich von einer dominanten Prägung durch bewegungsexterne Faktoren aus, die auf mehreren Ebenen lokalisierbar sind: die jeweilige Gesellschaftsformation, konkretere Entwicklungsetappen innerhalb einer solchen Formation, politische Regimestrukturen, diverse politische, diskursive und weitere Gelegenheitsstrukturen, die jeweiligen Handlungsarenen und schließlich kontingente Ereignisse. Bewegungsinterne Faktoren, zum Beispiel Ideologien, Frames, Organisation und Ressourcen, die von externen Bedingungen mit beeinflusst werden, sind nicht unwichtig, aber insgesamt doch eher sekundär – vor allem mit Blick auf die Wirkungen von Bewegungen.
Dieter, Du hast 1980 Dein erstes Buch in dem Themenfeld veröffentlicht, „Von Wyhl nach Gorleben: Bürger gegen Atomprogramm und nukleare Entsorgung“. Das ist 43 Jahre her. Was sind für dich die signifikantesten Veränderungen in der Protestlandschaft und was hat sich seitdem gar nicht verändert?
Weitgehend unverändert geblieben sind die Grundformen des Protests, nicht jedoch deren konkrete Ausgestaltung. Auch das grundlegende Themenspektrum: Menschen- und Bürgerrechte, Krieg und Frieden, Umweltschutz, Arbeitsbedingungen, soziale Gerechtigkeit, Hunger und Elend im globalen Süden – die Liste wäre noch deutlich länger – hat sich kaum verändert. Aber es gibt zeitspezifische Verschiebungen der Gewichte. So haben Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus, Migration aus ferneren Ländern, aber auch der Klimaschutz an Bedeutung gewonnen. Die Protestorganisation und Protestkommunikation ist professioneller, der Rhythmus von Themenkonjunkturen und Protestwellen dynamischer und weniger vorhersehbar geworden. Das liegt auch an den sozialen Medien, die zumeist den nach wie vor bedeutsamen Straßenprotest flankieren. Flexible Gruppen und Protestnetzwerke haben relativ zu Großorganisationen an Bedeutung gewonnen. Viele gruppenspezifische Anliegen – von Hebammen, Milchbauern, LKW-Fahrern, Mieter*innen, Kleinaktionär*innen – werden in Protestform vorgebracht. Der Anteil von Frauen am Protestgeschehen hat zugenommen. Insgesamt ist das Protestfeld immer verzweigter und unübersichtlicher geworden, was eine wachsende Herausforderung nicht nur für den Journalismus und das Publikum, sondern auch für die Protestforschung darstellt.
Vielen Dank für das Gespräch!