Seit 2018 schreiben Autor*innen des ipb in einer eigenen Rubrik des Forschungsjournals Soziale Bewegungen: “ipb beobachtet”. Die Rubrik schafft einen Ort für pointierte aktuelle Beobachtungen und Beiträge zu laufenden Forschungsdebatten und gibt dabei Einblick in die vielfältige Forschung unter dem Dach des ipb.
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Der folgende Text von Sebastian Sommer erschien unter dem Titel “Doing Protest: Die Analyse der performativen Dimension von Protesthandeln am Beispiel rechter Mobilisierungen” im Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 37, Heft 2.
Seit etwas mehr als zehn Jahren gewinnt die Betrachtung der performativen Dimension von Protest in unterschiedlichen Disziplinen an Bedeutung. So wenden sich protest- und bewegungswissenschaftliche Untersuchungen verstärkt Stimmungen, Affizierungsdynamiken oder im Allgemeinen den Erfahrungsräumen zu, die als Effekte von kollektivem Bewegungshandeln entstehen.1 Zugleich öffnen sich kulturwissenschaftliche Untersuchungen (wieder) mehr dem Feld der sozialen und politischen Bewegungen.2 So entstehen spannende Potentiale für transdisziplinäre Untersuchungen.3 Allerdings bleiben diese gegenwärtig noch vielfach ungenutzt, da Forschungen zur Performativität von Protest in unterschiedlichen Fachrichtungen nur selten miteinander verschränkt werden. Vor diesem Hintergrund versucht dieser Beitrag einen performanz-theoretisch interessierten Blick auf Protest zu stärken. Die Basis bilden eigene Untersuchungen zu den performativen Ausdrucksformen des völkisch-autoritären Populismus mit der theaterwissenschaftlichen Methode der performance analysis. Darauf aufbauend sollen die Möglichkeiten zur Verbindung der kunstwissenschaftlichen Perspektive mit unterschiedlichen Ansätzen der Protest- und Bewegungsforschung skizziert werden, um sich über Disziplingrenzen hinweg der analytischen Beschreibung von Protestperformanzen zu nähern.
Protest(-ereignisse) als Performanzen zu betrachten bedeutet zuerst, diese als (ephemere, d. h. temporäre) Produkte von (kollektivem) Handeln im Vollzug zu verstehen. Diese flüchtigen Netzwerke aufeinander bezogenen Handelns lassen sich einerseits strukturell-organisatorisch beschreiben, was beispielsweise den sozialwissenschaftlichen Ansatz von Bruno Latour und der Akteur-Netzwerk-Theorie kennzeichnet (Latour 2010: 67). Demgegenüber fragt eine kunstwissenschaftliche bzw. phänomenologisch interessierte Perspektive danach, wie das momenthafte kollektive Handeln von den Beteiligten körperlich-sinnlich sowie emotional-affektiv erfahren werden kann und welche spezifischen Wirkungen es dabei entfaltet (Warstat 2020: 120 f. oder Roselt/Weiler 2017: 22 f.). Aufgrund der Einbeziehung vielfältiger Dimensionen der individuellen Wahrnehmung berührt ein performativer Blick auf Proteste unweigerlich Fragen der Ästhetik des Politischen.4
Dabei geraten solche Phänomene schneller in den Blick, die explizit auf eine ästhetische Wirksamkeit der kollektiven Performanz ausgerichtet sind oder entsprechend inszeniert werden, zum Beispiel künstlerische Tätigkeiten. Die Schnittmengen sind dabei mannigfaltig, sodass die performativen Künste aufgrund ihrer spezifischen Wirkungsweisen dezidiert als Mittel des Politischen eingesetzt werden können. Beispiele hierfür sind unter anderem die „Kulturpolitik“ politischer Bewegungen5 oder die Entwicklung eigenständiger künstlerischer Ästhetiken mit einer expliziten politischen Wirkungsabsicht, wie die Lehrstücktheorie Brechts im Kontext der historischen (Theater-)Avantgarden.
Neben einer solchen Politisierung der performativen Künste innerhalb der Institutionen bzw. aus diesen heraus existieren vielfältige Praktiken der politischen Intervention durch performative Praxis. Eine solche aktivistisch eingebundene Kunst bzw. ein expliziter „Künstleraktivismus“ (mit Beispielen bei Mouffe 2014: 133 ff.)6 gewann insbesondere im Windschatten der neuen sozialen Bewegungen an Bedeutung. Zunehmend werden Protestereignisse auch von den Bewegungsakteur*innen selbst mit Blick auf ihre ästhetischen Wirkungen (für Teilnehmende und Außenstehende) inszeniert: zum Beispiel Flashmobs, Protestchoreographien7 oder chorische Protestperformanzen8. Im vielschichtigen Spannungsfeld von Performanz und Protest verschwimmen kategoriale Unterscheidungen, sodass Praktiken der künstlerischen Intervention und politischer Protest (mit ästhetischem Anspruch) ineinander übergehen.9
Protest als Performanz
Dennoch wäre es verkürzt, Fragen des Ästhetischen allein auf den Kontext absichtsvoll inszenierter Wahrnehmungsräume mit spezifischen Wirkungsintentionen zu verengen: zum Beispiel im Kontext der Performing Arts. Stattdessen soll nachfolgend ein offeneres Begriffsverständnis (im Sinne der radikaldemokratischen Tradition politischer Philosophie) gestärkt werden, das politisches Handeln grundsätzlich als ästhetische bzw. ästhetisch wirksame Praxis begreift (Dietrich 2022: 23 f.). Diese Perspektive orientiert sich enger an der Wortherkunft von aisthesis und fokussiert dementsprechend die Betrachtung des situativen Erlebens in seiner Gesamtheit. Die Untersuchung politischer Performativität als ästhetisch wirksame Praxis bedeutet somit eine Hinwendung zur Analyse der konkreten körperlich-sinnlichen und emotional-affektiven Erfahrungsräume, die als Ergebnis kollektiven Tuns geschaffen werden.
In diesem Sinne beschreibt Jacques Rancière bereits das alltägliche Erleben als Produkt des politichen Streits über die Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Entlang bestehender Machtverhältnisse bildet sich durch Ein- und Ausschlussdynamiken eine spezifische „Aufteilungen des Sinnlichen“ (vgl. Rancière 2008) heraus, welche die zur Verfügung stehenden Wahrnehmungspotentiale und damit die Möglichkeiten der ästhetisch vermittelten Erfahrung von (Um-)Welt formt. Aus dieser Perspektive rückt auch der performative Gehalt von alltäglich erscheinenden Protestpraktiken abseits der Künste, wie „normalen“ Kundgebungen oder Demonstrationen ohne explizite ästhetische Wirkungsabsicht, stärker in den Fokus. Obwohl diese Formen für viele Menschen oftmals der Hauptkontaktpunkt mit politischem und sozialem Protest sind, war das (akademische) Interesse an ihrer Performativität lange Zeit vergleichsweise gering.
Dabei können Teilnehmende unterschiedlicher Versammlungsformate von vielfältigen ästhetischen Erfahrungen als Effekt der kollektiven Protestperformanz berichten. In letzter Zeit finden sich beispielsweise in Medien-Interviews auf den bundesweiten Großdemonstrationen gegen die AfD vielfach Beschreibungen einer als bestärkend empfundenen Gemeinschaftlichkeit.10 Allerdings erfolgt seit etwas mehr als einer Dekade eine zunehmende Hinwendung zur Performativität von Protest – gerade auch in der deutschsprachigen Protest- und Bewegungsforschung. Das hat zwei Hauptgründe: Der erste betrifft Veränderungen der Protestrepertoires sozialer und politischer Bewegungen in einem globalen Kontext (s. u.). Der zweite ergibt sich aus den spezifischen Herausforderungen der wissenschaftlichen Annäherung an die neu aufkommenden mobilisierungsstarken Proteste des völkisch-autoritären Populismus im bundesdeutschen Kontext ab 2014.
Global betrachtet ist in den letzten zwanzig Jahren eine gewisse Veränderung der Gestalt und Ausrichtung von wirkungsstarken Protestereignissen zu beobachten. So waren beispielsweise die politisch prägenden Antiglobalisierungsproteste um die Jahrtausendwende (z. B. die Weltsozialforen) noch dominant von der Vorstellung geleitet, aus den Zusammenkünften der Aktivist*innen heraus gesellschaftliche Veränderung für alle in der Zukunft bewirken zu können. Demgegenüber verkörperten die weltweiten Platzbesetzungen am Ende der ersten Dekade des neuen Jahrtausends eine kollektive Praxis der Versammlung im Hier und Jetzt (della Porta 2015: 167) und betonten damit (implizit) eine performative Ästhetik.
Die unterschiedlichen Proteste innerhalb dieses politisch heterogenen movement of the squares – von den (südeuropäischen) Anti-Austeritätsprotesten über die Encampments von Occupy WallStreet bis hin zur Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo im Kontext des Arabischen Frühlings – bewirkten als dauerhafte Besetzungen notwendigerweise eine Transformation des angeeigneten öffentlichen Raumes. Sie etablierten neue kollektive Praktiken, wie Abläufe und Strukturen zur Aufrechterhaltung der Versammlung, und schufen ebenso dauerhafte Systeme der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung im Angesicht staatlicher Repression.
In diesem Sinne forderten die genannten Versammlungen nicht nur politische Veränderungen ein. Stattdessen setzten sie konkret alternative Formen des Zusammenlebens im Sinne eigenständiger „Sozialform[en]“ (Butler 2016: 278) um, die als kollektive Praxis im Hier und Jetzt performativ hervorgebracht wurden und erfahren werden konnten. Über die praktische Herstellung neuer urbaner Öffentlichkeiten hinaus besaßen die Versammlungen idealerweise das Potential, zu Experimentierfeldern alternativer Wege politischer Partizipation (vgl. Burri/Evert/Peters/Pilkington/Ziemer 2014) abseits demokratischer bzw. staatlicher Institutionen zu werden11 und so die politischen Vorstellungen oder Utopien präfigurativ zu verkörpern (vgl. van de Sande 2023). Diese Verschiebungen konkreter Protestpraxis lenkten auch die (wissenschaftliche) Aufmerksamkeit auf die performativen Dimensionen von Protesthandeln, sodass schon der Akt des Versammelns eine kollektive Präsenz im (öffentlichen) Raum artikuliert und als Performanz vordiskursiv Bedeutungen verkörpert (Butler 2016: 15).
Neben den Veränderungen des Protestrepertoires sozialer Bewegungen im globalen Maßstab führte im deutschsprachigen Raum das Auftauchen neuer Bewegungsakteur*innen zu einem Perspektivwechsel protestwissenschaftlicher Forschungsansätze. Dies ist vor allem auf die eklatante Forschungsfeindlichkeit im Milieu eines erstarkenden (völkisch-)autoritären Populismus zurückzuführen, die insbesondere bei der wissenschaftlichen Annäherung an die PEGIDA-Demonstrationen in Dresden von vielen Forschenden vor Ort beschrieben wurde (Daphi et al. 2015: 5 f. oder Geiges/Marg/Walter 2015: 36 ff.). In Anbetracht von Pöbeleien, Bedrohung oder gar körperlichen Übergriffen gelangten erprobte Instrumente und Methoden der Protest- und Bewegungsforschung, wie Befragungen, an ihre Grenzen – sowohl in Bezug auf die methodische Validität sowie das Wohlbefinden der Forschenden.
In den anschließenden Methoden-Debatten erfolgte bei der Suche nach alternativen Feldzugängen auch eine Hinwendung zu (ethnographischen) Beobachtungsansätzen (Teune/Ullrich 2015: 9). Sie wurden in diesem Zusammenhang zu einem wichtigen Bestandteil vieler methodenpluraler Studien,12 wodurch auch Elemente und Dimensionen kollektiver Performanz umfassender abgebildet wurden. Zudem versprachen entsprechende Ansätze auch eine gewisse Annäherung an ästhetische Phänomene, um auf der Basis der beobachtenden Teilhabe beispielsweise „Stimmungen und Atmosphären [zu] spüren“ (Geiges/Marg/Walter 2015: 34) oder das „affektuelle Potential“ von Protesten beschreiben zu können (Frei et al.2021: 2). In der Forschungspraxis wurden solche Versprechen hingegen nur selten umfassend eingelöst (Sommer 2021: 60). Doch wie kann diese Forschungslücke charakterisiert und bestenfalls geschlossen werden?
Performativität von rechtem Protest als Forschungslücke
In deutschsprachigen Beobachtungsstudien der zurückliegenden Jahre lassen sich zwei dominante Herangehensweisen an die Beschreibung von Protestereignissen unterscheiden. Das ist zum einen eine Fokussierung auf die im Protestkontext präsentierten Texte in Form von Plakaten, Schildern oder Reden. So können auch ohne persönlichen Kontakt Einblicke in Meinungen, Motive oder Überzeugungen der Anwesenden gesammelt werden. Diese Perspektive erscheint als semiotisches ‚zooming in‘, wodurch der Protest jedoch als Ereignis in seiner sinnlichen Vielfalt auf eine Ansammlung von Texten reduziert wird und ästhetische Wirkungen in der Analyse außen vor bleiben. Die zweite Herangehensweise lässt sich demgegenüber als ein strukturierendes ‚zooming out‘ beschreiben, um die oftmals unübersichtlichen (Groß-)Veranstaltungen zu ordnen und Muster erkennbar zu machen. Auf diesem Wege lassen sich manche strukturellen Dimensionen, wie der Ablauf, die Reihenfolge von Blöcken in einer Demonstration oder die Zusammensetzung der Teilnehmenden, relativ nachvollziehbar beobachten und beschreiben. Allerdings wirken die Annäherungen an ästhetische Phänomene als Produkt kollektiver Performanz in vielen Beobachtungsstudien aufgrund dieser auf übergreifende Strukturen fixierten Perspektive zumeist verkürzt und verallgemeinernd.
Wenn beispielsweise eine Art „Volksfeststimmung“ in Teilen einer beobachteten PEGIDA-Demonstration beschrieben wird (Daphi et al. 2015: 48), ist diese Darstellung vorrangig eine sprachliche Anspielung zur Erzeugung von Imaginationen bei den Lesenden. Die Annahme, dass sich auf der Basis eigener Erfahrungen Vorstellungen einer solchen Stimmung einstellen, ersetzt eine analytische Beschreibung des Phänomens als temporäres Produkt kollektiver Performanz im Sinne eines konkreten Tuns. Solche Tendenzen zur Verkürzung werden vielfach durch Generalisierungen verstärkt, wenn beispielsweise pauschal das Verhalten von „den Demonstrant*innen“ beschrieben wird.13 An dieser Stelle ließe sich konkreter fragen, wie in der individuellen Wahrnehmung (der Forschenden) der Eindruck einer allumfassenden Beteiligung an bestimmten Praktiken entstehen konnte. Zudem erscheint ein tiefer gehender Blick auf mögliche Abweichungen oder Inkongruenzen lohnenswert.
Solche Lücken in Bezug auf die Annäherung an Protestereignisse als kollektive Performanzen bzw. an performativ erzeugte Phänomene der ästhetischen Wahrnehmung sind im Kontext des autoritären Populismus auch epistemologisch bedeutend. So betonen viele Analysen die ästhetisch wirksamen Dimensionen autoritär-populistischer Politiken, die beispielsweise als „Zornpolitik“ (Jensen 2017) bestimmte Emotionen ansprechen oder Affizierungen bewirken sollen. In autoritär-populistischen Erzählungen verkörpern sich reale Erfahrungen oder Drohungen (relativer) Deprivation, die als schwer zu verbalisierende „Tiefengeschichten“ (deep stories; Hochschild 2019: 187) eine gefühlte Sicht auf die Welt repräsentieren und sich als spezifisch „rechte Zeitverhältnisse“ (Rhein 2023) sogar in die Wahrnehmung von Zeitlichkeit einschreiben können.
Diese multidimensionale Performativität des autoritären Populismus (von rechts) drückt sich nicht nur in analytischen Zuschreibungen (von außen) aus, sondern spiegelt sich auch in den Ansätzen einer politischen Theorie der (extremen) Rechten und des völkisch-autoritären Populismus selbst wider. Konzepte wie eine sogenannte Metapolitik, die in der Bundesrepublik maßgeblich vom völkischen Institut für Staatspolitik vertreten wird, betonen explizit die performative Ästhetik der angestrebten Politik, die sich auf der Basis von öffentlich wahrnehmbaren Stimmungen oder Gefühlen entfalten soll.14 In diesem Zusammenhang haben Versammlungen als wichtige Formen der niedrigschwelligen Partizipation an autoritär-populistischer Politik eine besondere Bedeutung. Für die bundesdeutsche Neonaziszene wies Fabian Virchow, ausgehend von eigenen Demonstrationsbeobachtungen, bereits Mitte der 2000er Jahre auf eine explizite „Demonstrationspolitik“ zur performativen Kreation von ästhetisch wirksamen „Emotionskollektiven“ hin (vgl. Virchow 2007). Im Hinblick auf die Analyse einer spezifischen Versammlungspolitik des völkisch-autoritären Populismus gibt es bisher kaum Ansätze einer solchen tiefer gehenden Untersuchung. Zudem finden sich viele Beispiele einer dichten Beschreibung konkreter Protestereignisse eher in ethnographischen Arbeiten als in Beobachtungsstudien.15
Performative Ästhetiken untersuchen
Insgesamt verweisen die neuen Herausforderungen bei der Beschreibung ästhetisch wirksamen Protesthandelns auf die Leerstellen bestehender Methoden und Beobachtungsansätze. Allerdings existieren außerhalb der Protest- und Bewegungsforschung durchaus vielfältige Ansätze zur Analyse ästhetischen Erlebens, zum Beispiel im Kontext von kulturwissenschaftlichen Betrachtungen im Bereich der performativen Künste. In der (deutschsprachigen) Theaterwissenschaft hat sich hierfür die Methode der Aufführungsanalyse bzw. performance analysis herausgebildet.16
Das performative Ereignis wird dabei ausgehend von den Wahrnehmungseindrücken der forschenden Person im Moment der Teilhabe analysiert, sodass der individuelle Körper selbst zum zentralen Analyseinstrument wird. Dabei werden die momenthaften Wahrnehmungen (nachträglich) in einem (Erinnerungs-)Protokoll festgehalten und diese Notizen anschließend sukzessive befragt und verdichtet. So können zum Beispiel unbewusste Fokussierungen oder implizite Setzungen Aufschluss über die Entstehung der entsprechenden Wahrnehmungseindrücke geben. In diesem Kontext wäre die Feststellung einer „Volksfeststimmung“ nicht das Ende der Analyse, sondern der Beginn der Beschreibung und Befragung des Erlebten nach Momenten, die eine solche Wahrnehmung ausgelöst bzw. evoziert haben (könnten): zum Beispiel kollektiver Alkoholkonsum, gemeinsames Lachen oder gelöste Gespräche der Teilnehmenden untereinander.
Ergänzend können die initialen Beobachtungen durch weitere Besuche der gleichen Inszenierung – wenn möglich – oder das Heranziehen externer Quellen analytisch ausgebaut werden.17 Das Produkt ist eine detaillierte und in den Abläufen nachprüfbare Beschreibung und Deutung individueller Wahrnehmungen. Der explizite Fokus auf das forschende Subjekt und dessen Körperlichkeit unterscheidet die performance analysis von anderen Ansätzen teilnehmender Beobachtung in den Sozialwissenschaften, die sich vielfach auf die Abbildung zwischenmenschlicher Interaktionen konzentrieren. Zugleich versucht eine aufführungsanalytische Herangehensweise, die (kollektiven) Performanzen als ästhetisch wirksame Ereignisse in ihrer Gesamtheit abzubilden und so beispielsweise auch räumliche Gegebenheiten, Lichtverhältnisse oder Akustik zu betrachten.
Bei meinen Besuchen der Dresdner PEGIDA-Versammlungen zeigte sich beispielsweise der enorme Einfluss des konkreten Kundgebungsraumes auf die Atmosphäre der Versammlungen. Insgesamt tendierten die von mir betrachteten Veranstaltungen im Zeitraum zwischen 2015 und 2016 zur Nutzung abgeschlossener Stadträume, wie dem Theaterplatz. Die räumliche Umschließung dieser Protest-Enklaven mit Gebäuden produzierte eine (immersive)18 Wahrnehmungssituation, welche die Anwesenden – einem Panorama gleich19 – umfänglich sinnlich einbettete. Einerseits wurden Wahrnehmungseindrücke von außerhalb der Versammlungen minimiert und andererseits Äußerungen aus der Versammlung heraus deutlich verstärkt, was den Effekt einer unmittelbar erfahrbaren „Echokammer“ hatte (Sommer 2023, 247).
Im Vergleich zur spürbar dichten Atmosphäre bei solchen umschlossenen Versammlungen mit intensiven und häufig wiederholten Rufen fiel die eher geringe(re) Spannung und Partizipationsbereitschaft bei Kundgebungen in offenen Stadträumen wie dem Wiener Platz am Dresdner Hauptbahnhof auf. Neben solchen Effekten der atmosphärischen Verdichtung können als Folge einer räumlichen Umschließung auch leichter Wahrnehmungen stadträumlicher Hegemonie entstehen, da abweichende Sinneseindrücke, wie die Äußerungsformen des Gegenprotests, weitestgehend ausgeschlossen bleiben. So können die Versammlungen als konkrete Umsetzungen autoritär-populistischer Homogenitätsvorstellungen auf der Basis von räumlicher Abgrenzung sowie Ausgrenzungsphantasien entlang von Ideologien der Ungleichwertigkeit empfunden werden.
Ein weiterer Aspekt der ästhetischen Wirksamkeit der PEGIDA-Versammlungen sind die vielfältigen Performanzen der kollektiven Synchronisierung (z. B. beim kollektiven Rufen als Reaktion auf die Redeinhalte oder beim abschließenden Singen der bundesdeutschen Nationalhymne). In diesem Zusammenhang ist es möglich, dass die performativen Abstimmungsprozesse Gefühle der (völkisch konnotierten) Zusammengehörigkeit evozieren. Über das momentane Erleben hinaus können auch langfristige Folgen des ästhetischen Erlebens der PEGIDA-Veranstaltungen angenommen werden. In diesem Sinne dürfte die regelmäßige Wiederholung von Erfahrungen einer performativ vermittelten Dominanz zur Einübung eines verkörperten Wissens in Bezug auf die auslösenden Praktiken der kollektiven Versammlung und Abstimmung unter den Teilnehmenden führen. Dieses kann auch an anderen Stellen abgerufen werden, wie die unangemeldeten Proteste aus dem PEGIDA-Spektrum anlässlich der zentralen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit 2016 in Dresden belegen. Obwohl die umfassenden Analysen der Protestperformanzen von PEGIDA an dieser Stelle nur skizzenartig wiedergegeben werden können,20 geben sie einen Eindruck vom Potential einer beobachtenden Teilnahme, die sich mit einer phänomenologischen Perspektive auf die konkreten Performanzen und ihre spürbaren Wirkungen fokussiert.
Neue Perspektiven zur Analyse von Protest als Performanz
Sicherlich ist die theaterwissenschaftliche performance analysis allein kein ausreichendes Mittel, um die Lücken in der Analyse der ästhetischen Wirkungen von (extrem) rechten und autoritär-populistischen Protestperformanzen zu schließen. So traten in meinen Untersuchungen auch die Unzulänglichkeiten der Methode offen zutage. Zentraler Schwachpunkt ist in diesem Zusammenhang das konstitutive „Subjektivitäts-Problem“ (Warstat 2020, 122), da die Analyse vordergründig auf den individuellen Wahrnehmungen der Forschenden beruht, die notwendigerweise beschränkt sind. Noch deutlicher tritt die unhintergehbare Individualität der Wahrnehmungseindrücke in Bezug auf die Positionalität der Beobachtenden hervor. Sie sind eben keine neutralen Messinstrumente, sondern in ihren Wahrnehmungen durch verinnerlichte Machtstrukturen (vor-)geprägt.21 Beide genannten Kritikpunkte spielen auch bei der Untersuchung von Protesten – insbesondere im Spektrum der (extremen) Rechten und des autoritären Populismus – eine entscheidende Rolle.
So können zum einen die individuellen Wahrnehmungen in weitläufigen Versammlungskontexten drastisch variieren, was eine Verallgemeinerung erschwert.22 Zum anderen stellt sich die Frage der Positionalität in diesem spezifischen politischen Kontext gleich zweifach. Dabei prägt die Art und Weise, wie die Forschenden im Feld aufgrund von (Fremd-)Markierungen (entlang zahlreicher Marker von Ungleichheit und Ungleichwertigkeit) wahrgenommen werden, bereits den Feldzugang und bestimmt die anschließende Beobachtungssituation (Geiges/Marg/Walter 2015, 41). Darüber hinaus besteht in der Regel eine weltanschauliche Differenz zwischen den Forschenden und ihrem Untersuchungsgegenstand, die sich zwangsläufig in die jeweiligen Wahrnehmungen einschreibt. Situationen, die ich im Rahmen meiner Beobachtungen als bedrohlich oder beklemmend empfunden habe, wurden von anderen Teilnehmenden um mich herum freudig beklatscht oder mit positiven Rufen beantwortet. An dieser Stelle kann jedoch eine Veränderung der Beobachtungsperspektive im Sinne einer „relationalen Phänomenologie“ (Sommer 2021: 63 f.) helfen, um durch die verstärkte Beschreibung des wahrgenommenen Verhaltens von anderen Teilnehmenden die eigenen Eindrücke kontrastierend einzuordnen.
Die beschriebenen Schwierigkeiten waren auch innerhalb der Theaterwissenschaft in den letzten Jahren Ausgangspunkt umfassender Methodendebatten, in denen unter anderem neue Analyse-Ansätze und Methoden(-kombinationen) diskutiert wurden (vgl. Wihstutz/Hoesch 2020). Dabei zeigt gerade die spezifische Anwendung der performance analysis im Kontext des völkisch-autoritären Populismus vielfältige Ansatzpunkte für methodische Innovationen, die auch in anderen Bereichen kulturwissenschaftlicher Forschung zur Anwendung kommen könnten. So ließe sich die oftmals mangelnde intersubjektive Nachprüfbarkeit der performance analysis durch den Einsatz von mehreren Beobachtungsgruppen auf einer Veranstaltung ausgleichen, um so eine Vielzahl an Perspektiven abzubilden. Auch eine stärkere Nutzung des Smartphones zur unkomplizierten Aufnahme unterschiedlicher Eindrücke kann Analysen im Nachhinein nachvollziehbarer machen.
Ein weiteres Mittel zur multimedialen Erweiterung von Beobachtungen ist die Verbreiterung der Datenbasis an (historiographischen) Quellen, um beispielsweise Beiträge in den sozialen Medien, Messenger-Verläufe oder Livestreams in die Analysen einzubinden. Auch eine verstärkte Integration von Befragungen, die sich speziell auf das ästhetische Erleben in den Protestperformanzen beziehen, wäre je nach Protestkontext denkbar.23
Die performance analysis ist dementsprechend eine Methode im Wandel, bei der jedoch die (forschungs-) ethischen Implikationen bei der Anwendung außerhalb der performativen Künste eindringlich zu diskutieren sind (Diefenbach/Knopp/Kocyba/Sommer 2019: 461 f.). Nichtsdestotrotz besitzt sie das Potential, die performative Dimension von Protesthandeln besser beschreibbar zu machen. Dabei trifft das wachsende Interesse der theaterwissenschaftlichen Forschung an der Diversifizierung der genutzten Methodik(en) auf die Suche nach alternativen Ansätzen zur Beschreibung der performativen Dimensionen von Protest in der Bewegungsforschung. Auf diese Weise ergeben sich vielfältige Ansatzpunkte für einen methodologischen Dialog über Disziplingrenzen hinweg.
Das soll nicht heißen, dass bestehende Ansätze (von Beobachtungsstudien) grundsätzlich hinterfragt werden müssen, da diese im Rahmen der jeweiligen Erkenntnisinteressen überzeugende Ergebnisse hervorbringen. Allerdings ist es aufgrund der beschriebenen Leerstellen in Bezug auf die Beschreibung von ästhetischen Phänomenen in Protestkontexten oder Protesten als ästhetisch wirksamen (Kollektiv-)Performanzen notwendig, die bestehenden Ansätze zu erweitern. Das bedeutet nicht, theater- bzw. kulturwissenschaftliche Herangehensweisen deckungsgleich zu übertragen. Stattdessen wäre eher eine Öffnung von protestwissenschaftlichen Analysen für performanz-theoretisch orientierte Blickwinkel bzw. phänomenologisch ausgerichtete Perspektiven sowie die Übertragung der damit verbundenen Konzepte zu diskutieren. Letztendlich wird es darauf ankommen, bestehende Untersuchungsinstrumente für die spezifischen Herausforderungen im Feld zu schärfen, über neue methodische Ansatzpunkte der Forschung (zum Beispiel im Dialog mit den Kulturwissenschaften) nachzudenken, um sich so mittels transdisziplinärer Forschungsdesigns kollektiven Protestperformanzen umfassender annähern zu können.
Über den Autor
Sebastian Sommer ist Theaterwissenschaftler und Ko-Moderator des Arbeitskreises „Rechte Protestmobilisierungen“ am ipb. Sein Forschungsschwerpunkt sind die performativen Ausdrucksformen der (extremen) Rechten und des völkisch-autoritären Populismus in der Bundesrepublik.
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Wihstutz, Benjamin/Hoesch, Benjamin (Hg.) 2020: Neue Methoden der Theaterwissenschaft. Bielefeld: transcript.10.1515/9783839452905
- Aus dem Kontext des ipb gibt es gegenwärtig einige Beispiele für Forschungen zur Performativität von autoritären Bewegungen und Protesten der (extremen) Rechten. So untersucht beispielsweise Sabine Volk die Protestperformanzen der Dresdner PEGIDA-Demonstrationen in ihrer Wirkung als Ritual (Volk 2022). Anna Schwenck widmete sich in einer aktuellen Arbeit den konkreten Performanzen (der Nähe) und der Inszenierung von Widerstand im Kontext von pandemieskeptischen
Protesten (Schwenck 2023). ↩︎ - Beispielhaft hierfür sind u. a. die Arbeiten des Hamburger Graduierten-Kollegs „Performing Citizenship“, die sich auch aus unterschiedlichen kunstwissenschaftlichen Perspektiven mit gegenwärtigen Performanzen von ‚citizenship‘ (z. B. in Protest- und Bewegungskontexten) beschäftigt haben: vgl. Hildebrandt et al. 2019. ↩︎
- Eine explizite Verschränkung von kulturwissenschaftlichen Analyse-Ansätzen und protestwissenschaftlichen Forschungsgebieten findet gegenwärtig beispielsweise in den (Teil-)Projekten des laufenden SFB 1514 „Intervenierende Künste“ an der Freien Universität in Berlin statt. ↩︎
- In diesem Sinne bezeichnet Jacques Rancière die ästhetische Freiheit als „eine Form von konkret erlebter Erfahrung“, die von den Beteiligten unmittelbar als gegenwärtige Wirklichkeit erlebt worden ist und über die mögliche Veränderung der Wahrnehmung des sinnlichen Gefüges der Welt eine politische Wirkung entfaltet (Rancière 2016, 56) ↩︎
- Eingehende Forschungen in diesem Feld beschäftigen sich u. a. mit den Festspielen der Arbeiter*innen-Bewegung (Warstat 2005) oder den „Massenspielen“ des Nationalsozialismus (Annuß 2019). ↩︎
- Ein Beispiel hierfür ist die Gesangsperformance Un violador en tu camino („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“), die das chilenische Kollektiv LASTESIS zur Unterstützung feministischer Kämpfe entwickelt hat, um Femizide öffentlichkeitswirksam anprangern zu können und gleichzeitig FLINTA-Perspektiven zu stärken. ↩︎
- Beispielhaft sind die Beschreibungen der Tanzperformances von One Billion Rising in Foellmer/Wartstat 2017. ↩︎
- Zu „Protestchören“: vgl. Donath 2018. ↩︎
- Diese Diversität ist auch innerhalb einer Bewegung zu beobachten. So bezeichnen beispielsweise Jenny Schrödl und Eike Wittrock die Vielfalt von Performanzen in queeren Bewegungen der 1970er und 80er Jahre als „Theater mit Sternchen“ oder „Theater*“ (Schrödl/Wittrock 2022), um die oftmals fluiden Formen unterschiedlicher Performanzen zwischen Alltag und Aktivismus zu fassen. ↩︎
- In den „Tagesthemen“ der ARD beschreibt eine Teilnehmende der Demonstration „Hand in Hand“ am 3. Februar 2024 in Berlin die emotional-affektive Wirkung der Großdemonstration: „Einfach das Gefühl zu haben, man ist nicht allein, was man halt bei uns im ländlichen Bereich oft hat.“ (Tagesthemen 23:30, 03.02.2024; 2:19). ↩︎
- Isabell Lorey beschreibt diese spezifische Form einer unmittelbaren politischen Gegenwart bzw. Gegenwärtigkeit der Beteiligten als „Demokratie im Präsens“, die als performativ hervorgebrachte „präsentische Demokratie“ (vgl. Lorey 2020) erfahren werden konnte. ↩︎
- In vielen Studien zu den PEGIDA-Demonstrationen fanden sich Elemente teilnehmender Beobachtung. Sie sind teilweise direkt in das Studiendesign integriert, wie bei den Beobachtungen des ipb (vgl. Daphi et al. 2015) bzw. den Analysen der TU Dresden unter Werner Patzelt (vgl. Currle/Pflugradt/Segelke/Weissenhorn 2016), oder den empirischen Studien vorangestellt (vgl. Geiges/Marg/Walter 2015). Auch bei der Annäherung an autoritäre Proteste gegen die staatlichen Maßnahmepolitik
im Angesicht der Covid-19-Pandemie kamen Formen der teilnehmenden Beobachtung zum Einsatz (vgl. Frei et al. 2021). ↩︎ - So heißt es z. B. im Demobericht von Frei et al.: „Die Demonstrantinnen haben sichtlich Spaß. Sie tanzen zur Musik, sitzen auf Campingstühlen oder Decken, beklatschen die Rednerinnen […].“ (Frei et al. 2021, 4). ↩︎
- Der völkische Publizist Thor von Waldstein betont beispielsweise das affizierende Moment der „Metapolitik“ als Mittel zur Kreation politisch ansprechender Atmosphären: „Metapolitik ist […] ein unverzichtbares Instrument für einen politischen Klimawandel. […] Es geht um kulturelle Attraktion, um ein neues Lebensgefühl jenseits der Irrwege unserer Zeit.“ (von Waldstein. 2015, 53 f.). ↩︎
- In ihrer teilnehmenden Beobachtung unter Trump-Sympathisant*innen in Louisiana beschreibt Arlie Russel Hochschild detailliert die Kreation von einem Hochgefühl der emotionalen Enthemmung unter den Teilnehmenden einer Wahlkampfveranstaltung von Donald Trump (Hochschild 2019: 296 ff.). ↩︎
- Zur Geschichte der Aufführungsanalyse: Warstat 2020: 119 ff. ↩︎
- Für eine ausführliche Darstellung der Methode: Roselt/Weiler 2017. ↩︎
- „In the broadest sense, ‘immersion’ describes a sensation that can equally arise while reading a book, watching a film, visiting an exhibition, or playing a computer game, namely, the impression of being placed in or surrounded by the space artificially created by the respective medium. This impression can be summoned by addressing both our perceptual apparatus as well as our imagination – two examples of entirely different modes of aesthetic experience.“ (Dogramaci/Liptay 2016, 11). ↩︎
- Bruno Latour führt das Panorama, jenes sensationelle Bildmedium des 19. Jahrhunderts, als Metapher für die großen Erzählungen der Soziologie ein, wobei das (sprachliche) Bild auf die Wahrnehmungssituation bei PEGIDA übertragbar ist: „Wie die Etymologie nahelegt, sehen Panoramen […] alles. Doch sie sehen ebenfalls nichts, denn sie zeigen bloß ein Bild, das auf die dünne Wand eines Raumes gemalt (oder projiziert) wurde, der nach außen hin völlig abgeschottet ist. […] Die volle Kohärenz ist ihre Stärke – und ihre größte Schwäche.“ (Latour 2010, 323 – Herv. i. O.). ↩︎
- Einen umfassenden Überblick der Ergebnisse des laufenden Dissertationsprojektes liefert Sommer 2023. ↩︎
- Lisa Skwirblies und Azadeh Sharifi untersuchen den Zusammenhang zwischen Positionalität und individueller Wahrnehmung in Bezug auf die Analyse post-/dekolonialer Theaterpraxis: ebd. 2022: 21 ff. ↩︎
- Allerdings folgt die grundlegende Inszenierung der PEGIDA-Versammlungen einem starken theatralen Dispositiv, das eine weitgehende Vereinheitlichung der Wahrnehmungen anstrebt. ↩︎
- Einen Ansatzpunkt hierfür liefert aus protestwissenschaftlicher Perspektive die Arbeit von Cilja Harders und Bilgin Ayata zu den affektiven Dynamiken auf dem Tahrir-Platz, die sie auf der Basis von nachträglichen Interviews mit Beteiligten als „Platzmomente“ (midān moments) beschrieben (Ayata/Harders 2018). ↩︎