Seit 2018 schreiben Autor*innen des ipb in einer eigenen Rubrik des Forschungsjournals Soziale Bewegungen: “ipb beobachtet”. Die Rubrik schafft einen Ort für pointierte aktuelle Beobachtungen und Beiträge zu laufenden Forschungsdebatten und gibt dabei Einblick in die vielfältige Forschung unter dem Dach des ipb.
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Der folgende Text von Maik Fielitz erschien unter dem Titel “Digitale Protestmobilisierung und neue Herausforderungen für die Bewegungsforschung” im Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 37, Heft 3.
Seit Beginn der Corona-Pandemie nahm ein in der Kombination aus Dauer und regionaler Verbreitung in der Geschichte der Bundesrepublik beispielloser Protestzyklus seinen Lauf. „Nicht ohne uns“ lautete der Titel der ersten Hygiene-Demonstration im März 2020 im Zentrum Berlins. Kurz darauf entstand die Querdenken-Bewegung, die von Baden-Württemberg aus über 150 regionale Ableger umfasste.1 Im Osten der Republik formierten sich ab 2021 rechtsextreme Protestgruppen nach dem Vorbild der Freien Sachsen und sorgten für eine Kanalisierung der Proteste gegen die Corona-Politik der Bundesregierung. Zwischen sie mischten sich hunderte lokale Initiativen, die Verschwörungstheoretikerinnen und Reichsbürgern eine Plattform gaben.
Was diesen Zyklus ausmacht, ist eine mehrdimensionale Dezentralisierung des Protests, der durch die digitale Durchdringung der Mobilisierung Vorschub geleistet wird. Nicht nur war es schwer, den Überblick zu behalten ob der Masse und Diversität der Proteste. Auch ändert(e) sich die politische Lage in Zeiten multipler Krisen so schnell, dass die thematischen und personellen Konstellationen des Protests sich stets in Veränderung befanden. Was allerdings konstant blieb, waren die Netzwerke der Mobilisierung, die über digitale Plattformen, insbesondere über den Instant-Messenger Telegram, eng miteinander verbunden sind. Diese kontinuierliche, zugleich fragile Vernetzung zur Mobilisierung hunderter, regional breit gestreuter Kleinstgruppen, stellt eine Herausforderung für die Bewegungsforschung dar, die ihren Fokus auf Organisationsstrukturen, Kontinuitäten und große Protestevents überdenken muss.
1 Digitale Protestmobilisierung: Eine Einordnung
Die Digitalisierung hat die Dynamiken von Protest stark verändert – nicht nur im Kontext der Organisation und der Vermittlung, sondern auch in der Mobilisierung. Zu den wenigsten Protesten wird heute noch auf analogen Wegen mobilisiert: Flyer, Sticker und Plakate mit mobilisierenden Botschaften gehören in bestimmten Protestmilieus quasi der Vergangenheit an. Selbst Blogs, die extra für bestimmte Anlässe ins Leben gerufen wurden, wirken überholt. Die sozialen Medien und Netzwerke haben zu einer „Plattformisierung“ von Protest beigetragen (van Dijck et al. 2018: 19): Um Proteste zu initiieren, benötigt es im digitalen Kontext nicht notwendigerweise vermittelnder Organisationen. Um an ihnen teilzunehmen, reicht manchmal ein Klick. Um sicht- und ansprechbar zu werden, investieren Bewegungen in digitalen Aktivismus. Als Massenbewegung bedürfen sie lokal wie transnational der digitalen Koordination (Fielitz et al. 2020: 397).
Von der rechtsradikalen Pegida-Bewegung über Querdenken bis zu der migrantischen Selbstorganisierung unter dem Label Migrantifa: Viele heute relevante Akteure entstanden als digital-vernetzte Bewegungen, die laut der Soziologin Zeynep Tufekci durch vier Merkmale gekennzeichnet sind (Tufekci 2017): Sie sind, erstens, dezentral über digitale Technologien strukturiert und neigen zu flachen Hierarchien. Sie kommunizieren, zweitens, über soziale Medien, wodurch sie Menschen viel schneller mobilisieren können. Sie haben, drittens, Schwierigkeiten langfristig Menschen an sich zu binden, weil die Verbindlichkeit sich ohne feste Organisationsanker reduziert. Viertens fällt es ihnen schwer, zielgerichtet zu kommunizieren, weil sich viele Menschen als Botschafter der Bewegungen inszenieren, was widersprüchliche Wahrnehmungen nach sich zieht.
Die Analyse Tufekcis ist nicht auf progressive Bewegungen zu begrenzen. Die Wege in den Autoritarismus können libertär und individuell sein, was sich auch in der Widersprüchlichkeit der Bewegungen und ihren wiederholten Kehrtwendungen ausdrückt. In der Tat richtet sich die persönlichkeitszentrierte (Protest-)Politik gegen jede Form der Strukturierung, die als eine Form der Bevormundung abgelehnt wird. Das „Zeitalter des individuellen Autoritarismus“ (Turner 2019) findet seinen Ausdruck in den Anti-Konsens Gruppen, die sich am ehesten noch auf eine Ablehnung des Mainstreams und eines vermeintlich grünen Zeitgeists herunterbrechen lassen, als dass sie eine klare Zielsetzung haben.
2 Vier Dimensionen der Dezentralisierung
In diesem skizzierten Spektrum finden wir heute eine schwer überschaubare Vielzahl von regional spezifischen Gruppen, die sich regelmäßig zu Protest versammeln. Organisatorisch waren viele lange Zeit mit der Querdenken-Bewegung verbunden. Doch mit dem Abklingen der Corona-Maßnahmen und mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 verlor die Bewegung an Zugkraft. Brachten lokale Protestgruppen im Winter 2021/22 noch Tausende Menschen auf die Straßen, schlich sich die Bewegung infolge der „Spaziergänge“ im Herbst 2022 langsam aus. In vielen Klein- und mittelgroßen Städten bildeten sich in der Folge gut vernetzte Protestgruppen unter einem gemeinsamen Branding, die montäglich unter dem Motto „Lünen denkt anders“, „Hattingen für Frieden“, „Freiheitsboten Quickborn“ oder „Leipzig steht auf“ zu Demonstrationen mobilisieren. Diese Gruppen sind politisch oft schwer einzuordnen. Die Themen changieren zwischen Lokalpolitik, Systemkritik, Verschwörungserzählungen und pro-russischer – selten offener rechtsextremer – Propaganda. Nichtsdestotrotz stehen sie exemplarisch für eine Dezentralisierung des Protestgeschehens, die sich in vier Dimensionen gliedern lässt.
2.1 Die personelle Dezentralisierung: Führung des führerlosen Protests
Die Initiierung dieser lokalen Proteste wird oft durch politisch wenig erfahrene Personen angeleitet, was der Mobilisierung durchaus Authentizität verleiht. Im unterfränkischen Aschaffenburg zum Beispiel war ein Rentner, der politisch zuvor nie in Erscheinung getreten war, das Gesicht von Querdenken sowie deren Folgegruppierungen (Gürgen 2023). Nicht selten sind jene selbsternannten Anführer auch die Verantwortlichen relevanter Telegram- oder Facebook-Gruppen, über die mobilisiert wird. Diese Gruppen sind die zentralen Aushängeschilder lokaler Proteste, wodurch ihre Administrator*innen auch die Rolle der Sprecher*innen der Gruppen einnehmen. Persönliche Präferenzen werden so schnell zu Gruppenpositionen; widersprüchliches Verhalten und abstruse Verschwörungstheorien inklusive. Zugleich gibt es kaum Protest- und Organisationswissen, das Orientierung bietet. Im Gegenteil zeichnet sich dieses „dynamische Organisationsprinzip von unten“ durch individuelle Prägungen aus, das mit der französischen Gelbwesten-Bewegung2 aufkam (Breljak/Mühlhoff 2019: 8). Dies kann es wiederum auch organisierten Kräften leicht machen, die Proteste zu absorbieren. So haben im Osten der Republik die rechtsextremen Bewegungen Freie Sachsen und Freies Thüringen solche Proteste kanalisiert. Im Westen der Republik konnten sich solche Zentralisierungstendenzen nicht durchsetzen.
2.2 Die räumliche Dezentralisierung: Abkehr von der Großstadt
Auffällig ist weiterhin, dass sich die Orte des Protestgeschehens verlagern: weg von den Großstädten, hin zu Klein- und mittelgroßen Städten. Dass in Kleinstädten wie dem nordrhein-westfälischen Hattingen über zwei Jahre fast pausenlos montägliche Demonstrationen stattfanden, ist ein Novum (Chur 2024). Einschränkungen der Mobilität während der Pandemie haben dazu beigetragen. Regionen ohne Bewegungsstrukturen und Protestgeschichte verstehen sich innerhalb kürzester Zeit als Orte des Widerstands. Viele verweisen auf die vernetzende Wirkung des Messenger-Dienstes Telegram, dessen Gruppen und Kanäle mit Ortskennzeichen wie der Postleitzahl oder Telefonvorwahl benannt werden. So schließen sich Menschen digital schnell zusammen, die sich dann auch auf der Straße wiederfinden. Die Verwurzelung der Organisator*innen in der lokalen Stadtgesellschaft hat einen authentischen Charakter und trägt zur Mobilisierungskraft bei. Durch den Austausch von Videos und Fotos von „Spaziergängen“ und Kundgebungen werden auch lokale Proteste anderswo inspiriert.
2.3 Die thematische Dezentralisierung: Themenhopping by default
Der Protestzyklus, der sich zunächst gegen die Pandemie-Maßnahmen formierte, hat sich thematisch stark erweitert. Mit der Energiekrise, der Ablehnung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der deutschen Debatte um den Krieg in der Ukraine und jüngst auch in Israel ergeben sich thematisch neue Anknüpfungspunkte, um eine oft diffuse Dissidenz zum Ausdruck zu bringen. Die feindbildfixierte Mobilisierung erlaubt es nicht immer, die Akteure in klassische Links-Rechts Kategorien einzuordnen, wenn auch insbesondere im Osten der Republik die extreme Rechte sich dem Mobilisierungspotenzial erfolgreich angenommen hat.
Alternativmedien wie zum Beispiel der österreichische Fernsehsender AUF1 und selbsternannte Influencer wie der erst Querdenken- dann AfD-Aktivist Björn Banane geben in diesen Gruppen die Themen vor. Sie fungieren als Stichwortgeber für eine zerstreute Protestmasse, die sich stets nach der größten öffentlichen Aufmerksamkeit ausrichtet.
2.4 Die digitale Dezentralisierung: Cross-Plattform Dynamiken
Das organisatorische Rückgrat und Vernetzungstool der diversen Gruppierungen ist (und bleibt vorerst) Telegram. Die Plattform besitzt bei Querdenken und Co. Kultstatus. Die schnellen Weiterleitungen zwischen öffentlichen Kanälen, offenen Gruppen und privaten Chats führt zu einer beschleunigten Kommunikation von Informationen über das Protestgeschehen. Telegrams chronologisch aufgebauter Chat sorgt zudem für eine erhöhte Frequenz in der Informationsverbreitung. Zugleich erschließen sich die Akteure eine Vielzahl von Plattformen, die auch zu einer Dezentralisierung der Propagandaarbeit beitragen. So können Bewegungsakteure über ein angepasstes Auftreten verschiedene Zielpublika erreichen: Facebook für die Boomer, X für die Presse und TikTok für die Generation Z. Insbesondere der Videoaktivismus auf YouTube verbindet diese Plattformen eindrücklich (Sick et al. 2024). Jede Plattform hat somit auch einen eigenen Zuschnitt und fügt sich in ein vielfältiges Ökosystem der Protestkommunikation ein.
3 Herausforderungen für die Bewegungsforschung
Der Versuch, die wöchentlich stattfindenden Proteste des skizzierten Spektrums zu überschauen, hat Medien, Praxis und Forschung an ihre Grenzen gebracht. Das montägliche Protestwesen gehört bereits so sehr zum Straßenbild, dass Lokalmedien kaum mehr darüber berichten. Mobile Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus haben ihre Chroniken eingestellt, weil sie überlastet sind ob der vielen Meldungen, die sie bekommen. Und die Protestforschung hat selbst bis auf wenige Untersuchungen zur Zusammensetzung der Proteste in bestimmten regionalen Kontexten kaum Aussagen zu Ausmaß und Qualität der Proteste machen können, weil reliable Daten fehlen (Nachtwey et al. 2020). Die zumeist auf Presseberichten beruhenden Studien stellen eher ein verzerrtes Bild der Protestlandschaft dar, da sie die Veralltäglichung der Proteste nicht gut abbilden.
Das Wesen dieser digital-vernetzten Proteste ist bisher zu wenig thematisiert worden; die Kombination aus Online- und Offline-Methoden der Erforschung noch zu wenig erprobt. Ebenso sind die Kontexte einer digitalen Gemeinschaftsbildung unterbelichtet. Will die Protestforschung aber besser erklären, was Menschen zum politischen Handeln bewegt, muss sie sich auch in die digitalen Tiefen – und Abgründe – bewegen, in denen Tausende Menschen angesprochen und mobilisiert werden und zugleich mit maschinellen Methoden versuchen, einen Überblick zu erhalten.
Nicht zuletzt müssen auch die technischen Infrastrukturen in der Erforschung von Protestdynamiken stärker berücksichtigt werden: Welche Plattform(kultur)en welche Formen des Austauschs anleiten, ist nicht unerheblich für die Art und Weise, wie sich Menschen von mobilisierenden Inhalten angesprochen fühlen. Auch moderative Eingriffe durch Plattformen tragen immer mehr dazu bei, die Erfolgsbedingungen von digital vernetzten Bewegungen zu beeinflussen. Der Aufbau eigener Plattformen oder föderierter Netzwerke verlässt zudem die digitale Nische und wird von immer mehr Bewegungen angenommen, was genauerer Beachtung bedarf. Zwar wird mit den bundesweiten Großdemonstrationen gegen Rechtsextremismus seit Januar 2024 ein Kontrapunkt zur rechtsalternativen Straßendominanz Mobilisierung gesetzt. Allerdings verstetigt sich parallel noch stärker der demokratiekritische Protestsektor, der regressive Dynamiken weiter antreibt.
Über den Autor
Maik Fielitz ist Bereichsleiter Rechtsextremismus- und Demokratieforschung am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft.
Literatur
Bitzmann, Hendrik/Sick, Harald/Fielitz, Maik/Marcks, Holger 2023: Die Kanalisation des Protests. Demokratiefeindliche Mobilisierung via Telegram. In: Machine against the Rage. 1. https://www.doi.org/10.58668/matr/01.210.58668/matr/01.2
Breljak, Anja/Mühlhoff, Rainer 2019: Was ist Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft? In: Mühlhoff, Rainer/Breljak, Anja/Slaby, Jan (Hg.): Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft. transcript, 7–34.10.1515/9783839444399-001
Chur, Daniel 2024. Hattinger bilden Menschenkette gegen „Montagstrommler“. 20. Februar 2024, https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/menschenkette-gegen-hattinger-montagstrommler-100.html.
Fielitz, Maik/Marcks, Holger 2020: Digitaler Faschismus. Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus. Dudenverlag.
Fielitz, Maik/Gauditz, Leslie/Staemmler, Daniel/Stern, Verena (Hg.) 2020: Digitaler Aktivismus: Hybride Repertoires zwischen Mobilisierung, Organisation und Vermittlung. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 33(2), S. 397–401.10.1515/fjsb-2020-0034
Gürgen, Marlene 2023: Proteste in Aschaffenburg. Rentner, Neonazis, Trommelgruppen. 10. September 2023, https://taz.de/Proteste-in-Aschaffenburg/!5956397/
Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft 2024: Wissen schafft Demokratie 14. Schwerpunkt: Netzkulturen und Plattformpolitiken.
Nachtwey, Oliver/Schäfer, Robert/Frei, Nadine (Hg.) 2020: Politische Soziologie der Corona-Proteste. Universität Basel.10.31235/osf.io/zyp3f
Reichardt, Sven (Hg.) 2021: Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“. Die Corona-Proteste auf kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Campus.
Sick, Harald; Fielitz, Maik; Donner, Christian; Marcks, Holger; Brodersen, Wyn 2024: Subscribe to Subversion! Crossmediale Techniken der Gemeinschaftsbildung in rechtsalternativen Kontexten. In: Machine Against the Rage 6. https://www.doi.org/10.58668/matr/06.2.10.58668/matr/06.2
Tufekci, Zeynep 2017: Twitter and Tear Gas. The Power and Fragility of Networked Protest. Yale University Press.
Turner, Fred 2019: Machine Politics. The Rise of the Internet and a New Age of Authoritarianism. https://harpers.org/archive/2019/01/machine-politics-facebook-political-polarization/
van Dijck, José/Poell, Thomas/Waal, Martijn de (Hg.) 2018: The Platform Society. Public Values in a Connective World. Oxford University Press.10.1093/oso/9780190889760.001.0001
- Die Querdenken-Bewegung entwickelte sich aus den Protesten gegen die politischen Maßnahmen zur Einhegung der Corona-Pandemie heraus und war regional durchaus unterschiedlich aufgestellt. Was viele ihrer Anhänger*innen zusammenhielt, war ein Misstrauen gegenüber der Politik und den Verfahren der liberalen Demokratie (Reichardt 2021) ↩︎
- Die französische Gelbwestenbewegung formierte sich 2015 aus Protest gegen die steigenden Benzin- und Lebenshaltungskosten, die insbesondere Menschen aus ländlichen Regionen traf. ↩︎
Foto: Grafik zur räumlichen Verteilung demokratiefeindlicher Mobilisierungen über Telegram. Forschungsstelle BAG »Gegen Hass im Netz« feat. Pablo Jost, »Die Kanalisation des Protests. Demokratiefeindliche Mobilisierung via Telegram«, in: Machine Against the Rage, Nr. 1, Winter 2023, DOI: 10.58668/matr/01.2.