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Bericht zur ipb-Jahrestagung 2018 – „Der Kontext lokaler Proteste“

„Der Kontext lokaler Proteste“ – Jahrestagung des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung

Am 09. und 10. November 2018 fand am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin die dritte Jahrestagung des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) statt. Rund 100 Teilnehmende diskutierten über den lokalen Rahmen von Protest und die Notwendigkeit, Konflikt in begrenzten geographischen Räumen zu betrachten, um die spezifische räumliche Einbettung als Erklärungsfaktor mit einzubeziehen.Ausgangspunkt der Tagung war die Beobachtung, dass zwar große, überregionale oder sogar transnationale Protestereignisse wie zuletzt die G20-Proteste in Hamburg das (mediale) Bild von Protest prägen, aber tatsächlich die überwiegende Zahl politischer Proteste auf einen lokalen Rahmen beschränkt bleibt. Lokale Ereignisse und Missstände bilden den Ausgangspunkt für Proteste, die Mobilisierung erfasst in den meisten Fällen nur einen sehr begrenzten geographischen Raum einer Region, einer Stadt oder eines Stadtteils. Folglich haben lokale Gelegenheitsstrukturen einen wesentlichen Einfluss auf die Möglichkeit und den Verlauf von Protest.

Wie beeinflussen lokale Ereignisse und Strukturen das Auftreten und die Dynamik von Protest? Welche Beziehungen bestehen zwischen lokalen und nicht-lokalen Protesten? Welche Gemeinsamkeiten bestehen zwischen lokalen Protesten an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten?

Diese und andere Fragen standen im Fokus von insgesamt 13 Paneldiskussionen, die zu einem wesentlichen Teil von den Arbeitskreisen des Instituts organisiert wurden[1]. Konkret ging es um die Rolle von Medien in lokalen Protesten, Konflikte um Migration und Asyl, Atomkraft, Landwirtschaft, städtische Bewegungen, autonome Bewegungen und die Interaktion mit der Politik bzw. der zwischen rechten und linken Bewegungen.

Protest und Medien im lokalen Kontext

Das vom Arbeitskreis Medien organisierte Panel Protest und Medien im lokalen Kontext umfasste drei Vorträge von Simon Teune (Berlin) über „Mobilisierende Heimatbilder“, Sigrid Kannengießer (Bremen) über „Medien und translokale aktivistische Netzwerke“ und Mark Dang-Anh (Mannheim) über „Synthetische Situationen im urbanen Protestraum“. In den drei Vorträgen ging es aus unterschiedlicher Perspektive um das Lokale am Protest und die Relevanz unterschiedlicher Medien. Simon Teune berichtete über die Anti-AKW-Bewegung, die gegen die Zerstörung des lokalen Raums, der „Heimat“ durch den rücksichtslosen technologischen Fortschritt (hier: Atomkraftwerke) protestieren. Sigrid Kannengießer zeigte anhand von zwei Gruppierungen, wie Medien zur Vernetzung, Mobilisierung und Koordination von Aktivist*innen gebraucht und auch verändert (acting on media) werden. Mark Dang-Anh erläuterte, wie lokaler (urbaner) Protest durch Twitter-Kommunikation synthetische Situationen schafft, die über die spezifische Präsenz von Personen hinausgehen.

Lokale Konflikte um Migration und Asyl

Das Panel Lokale Konflikte um Migration und Asyl befasste sich mit unterschiedlichen Mobilisierungen in einem spezifischen Konfliktfeld. Dabei zeigte sich, dass Konflikte um Migration und Asyl oft sehr eng mit lokal-spezifischen Gegebenheiten, Dynamiken und Akteurskonstellationen zusammenhängen. So analysierte Leslie Gauditz (Bremen) in ihrem Beitrag transnationale Flüchtlingsunterstützung in Athen und hinterfragte dabei bestehende Zuschreibungen lokaler Zugehörigkeit. Julia Glathe (Berlin) untersuchte rechtsextreme Allianzen und Legitimationsprozesse in der Protestbewegung gegen die deutsche Flüchtlingspolitik in Cottbus. Sophie Hinger (Osnabrück) stellte Ergebnisse einer Untersuchung vor zu Protesten gegen Abschiebungen und verdeutlichte ihrem starken lokalen Bezug an zwei Fallbeispielen in Osnabrück. Im Rahmen der Jahrestagung konstituierte sich ein neuer AK, der sich aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven mit Protest und Migrationsphänomenen befasst.[2]

Städtische Bewegungen – von links, von rechts

Proteste in Städten sind in der Regel von konkreten Anlässen (Veränderung der Nachbarschaft, steigende Mieten, Abbau öffentlicher Angebote etc.) motiviert, ihre Forderungen darauf bezogen, ihre Lebensdauer kurz und ihre Erfolge flüchtig. Bewegungen versuchen, punktuelle Proteste zu verknüpfen, sie in einen Rahmen gesamtgesellschaftlicher Auseinandersetzungen zu stellen und längerfristige Transformationsperspektiven zu verankern. Der Impuls für die Politisierung lokaler Problemlagen scheint momentan vor allem von rechten und autoritären Bewegungen auszugehen. Stimmt dieser Eindruck und wenn ja, warum ist das so? Mit welchen Strategien und Deutungen treten Bewegungen an städtische Konflikte heran? Diese und weitere Fragen wurden in zwei Diskussionsrunden des vom AK Stadt/Raum organisierten Doppelpanels Von Betroffenheit zu Kämpfen – ein Vergleich linker und rechter städtischer Bewegungen mit insgesamt sechs Beiträgen diskutiert.

Im ersten Teil standen Fragen der Organisierung und Organisierungsangebote seitens verschiedener Bewegungen im Mittelpunkt. Robert Maruschke (Berlin) wendete sich eingangs gegen den Eindruck, Bewegungshandeln stünde am Ende einer aufsteigenden Entwicklung zunehmender Organisierung oder aber einer Kanalisierung spontaner Widerstände. Organisierung, etwa in Form von Verantwortungsübernahme und -zuteilung, finde hingegen immer statt, wenn Akteur_innen kollektiv auftreten. Sie kann jedoch, so ergab die Diskussion, sehr wohl verschiedenes bedeuten, stärker ‚von unten‘ oder stärker ‚von oben‘ ausgehen. Bewegungserfolge, die gerade auf schwachen organisatorischen Bindungen fußen, dokumentierte Maik Fielitz (Hamburg) anhand einer Studie über die extreme Rechte im Landkreis Lörrach im Schwarzwald. In der prosperierenden ländlichen Region haben sich überregionale Ereignisse (die bundesweite Diskussion um die Aufnahme Geflüchteter), die Intervention von Schweizer Rechtspopulisten und die sozialen Netze als Katalysator lokaler Mobilisierungen von rechts erwiesen. Dass sich Organisierung nicht immer klar in solche von rechts oder links unterscheiden lässt, sondern Bündnisse quer zu diesen politischen Trennlinien entstehen können, machte der Beitrag von Peter Bescherer (Jena) deutlich. Anhand des Konflikts um einen Garagenhof in Leipzig arbeitete er Brüche heraus, die sich beim Versuch der AfD, lokale Proteste der Betroffenen aufzugreifen und zu verbreitern, beobachten lassen. Im Umkehrschluss wäre zu überlegen, wie eine (radikal-) demokratische Politisierung unaufgeregt an die Erfahrungen des urbanen Alltags und die darin zum Ausdruck kommenden Bedürfnisse anknüpfen kann, um als Korrektiv politisch-medialer Dramatisierungsversuche zu wirken.

Die Beiträge im zweiten Teil des Panels rückten strategische Diskurse und mediale Bezüge in den Blickpunkt der Debatte. Lisa Vollmer (Weimar) und Ulrike Hamann (Berlin) stellten Praktiken der „inneren Organisierung“ zur Diskussion, mittels derer die Berliner Mieter_innenbewegung versucht, politische Kollektivitäten zu entwickeln. Ein wichtiger Baustein dabei ist es etwa, Betroffenheiten zu vergemeinschaften, aber auch von ihnen zu abstrahieren und soziale und politische Praktiken – vom Kuchenbacken bis zum Flugblattmachen – gleichwertig zu behandeln. Dennoch kann die Bewegung unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen nur begrenzt Einfluss nehmen und befindet sich gegenüber der Rechten in einer schwächeren Position, da deren Forderungen anschlussfähiger an neoliberale Hegemonien seien. Valentin Domann (Berlin) wies demgegenüber auf eine Verschiebung im Selbstverständnis rechter Bewegungen und Parteien „von Elite zu Masse“ hin, die mit einer Distanz zum Markradikalismus sowie veränderten Raumbezügen einhergehe. So habe sich in Westberlin ein rechtes Mediennetzwerk etabliert, das seine Deutung eines lokalen Konflikts – auf einer zum Park umgedeuteten Brachfläche sollte eine Flüchtlingsunterkunft entstehen – popularisieren konnte: „AfD fordert Bürgerbeteiligung“. Abschließend rekonstruierte Johannes Richter den Diskurs der sächsischen CDU, die das Bundesland seit 1990 ununterbrochen regiert, zu Pegida einerseits und dem Bündnis Dresden Nazifrei andererseits. Er stellte diskursive Strategien der Entdifferenzierung im Fall von Dresden Nazifrei (nach dem Motto: „das sind alles Linksextreme“) und der Differenzierung (in besorgte Bürger, Populisten und Rechtsextreme) im Fall von Pegida heraus.

Autonome und anarchistische Bewegungen

Das Panel Autonome und anarchistische Bewegungen setzte sich mit der Praxis selbstorganisierter Basisinitiativen und Bewegungen in verschiedenen geographischen Kontexten auseinander. Oft aufgrund der fehlenden medialen Berichterstattung vernachlässigt, standen hier konkrete Akteure im Blick, die präfigurativ mit neuen Formen des Zusammenlebens experimentieren und sich – im Gegensatz zu linken Massenbewegungen – in horizontalen und lokal verankerten Strukturen gegen Ausbeutung und Repression von staatlicher Seite organisieren. Den Auftakt übernahm Raina Zimmermann (Berlin), die mit ihrem Porträt der zapatistischen Bewegungen die Bedeutung autonomer Räume für eine breitere gesellschaftliche Transformation aufzeigte. Ricardo Kaufer (Göttingen) schilderte Entstehungskontext und Verlauf der anarchistischen Kampagne Ausbruch, Aufbruch, Anarchie, die als eine Reaktion auf staatliche Repression im Frühsommer 2017 ein solidarisches Zeichen setzen wollte, und ordnete sie in den Kontext anarchistischer Aktivitäten in Deutschland ein. Im dritten Vortrag stellte Maria del Carmen Mayer (Frankfurt) ihre Forschung zu Stadtteilinitiativen am Mailänder Stadtrand vor. Anhand ethnographischer Forschungen präsentierte sie Einblicke in die Zusammensetzung und Organisationsstruktur jener selbstverwalteten Gruppen, die sich primär aufgrund einer fehlenden sozialen Wohnungspolitik u.a. durch Besetzungen selbst praktische Lösungen suchen und finden.

Fukushima und Orte des Protests in Japan

Mit dem Panel Sayonara Atomkraft – Fukushima und Orte des Protests in Japan war auch die Japanologie vertreten. Das Panel bot eine japanologisch-kulturwissenschaftliche Analyse der jüngeren Anti-Atom-Protestbewegungen in Japan nach der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011. Das Panel bestand aus drei Beiträgen: Damian David  Jungmann (Frankfurt) bot Einblicke in die Zeitgeschichte japanischer  Protestbewegungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Andres Singler (Mainz)  berichtete über seine langjährigen journalistischen Recherchen zu  Anti-Atom-Bewegungen nach „Fukushima“ und Christian Chappelow (Frankfurt) diskutierte  abschließend in kommentierten Lesungen Poetik und Funktion literarischen Anti-Atom-Protests. Entsprechend des Leitthemas der Konferenz standen in der anschließenden Diskussion Bedingungen und  Möglichkeiten lokalen Protests in Japan im Vordergrund, wie auch  grundlegender die Vorurteile einer protestfreien japanischen  Nachkriegsgesellschaft sowie die Einbindung der Atomthematik in breitere Diskurse um demokratische und technikethische Verantwortung in Japan nach 2011.

Lokale Proteste – staatstheoretisch betrachtet

Das Panel Bewegung auf der Straße | im Staat | im Recht – Neue Strukturen und Terrains der Auseinandersetzung diskutierte darüber wie sich gesellschaftstheoretische Ansätze – insbesondere aus dem Bereich der materialistischen Rechts- und Staatstheorie – für die Analyse lokaler Proteste verbinden lassen. Carolina Vestena (Kassel) begann mit einer rechtstheoretischen Perspektive auf die Widerstände gegen die Austeritätspolitik in Portugal, die sich in großem Ausmaß auf der Straße Bahn brachen, aber auch in den Entscheidungen des Verfassungsgerichts sichtbar wurden. Dieses kippte nicht nur die „Sparhaushalte“, sondern erklärte auch einzelne Maßnahmen für verfassungswidrig. Martin Sarnow (Kiel) folgte mit Ausführungen zu munizipalistischen Plattformen in Katalonien. Er stellte einerseits die Entstehung der munizipalistischen Listen im Kontext der Anti-Austeritätsproteste, aber auch der langen Geschichte kollektiver Selbstorganisierung dar und fragte nach den Perspektiven und Grenzen dieses „Angriffs auf die Institutionen“. Den Abschluss bildete Norma Tiedemann (Kassel) mit ihrer Darstellung der „Neuen Munizipalismen in Südosteuropa“ und der Frage ob und inwiefern diese als Brüche einer zunehmend autoritär-neoliberal werdenden Staatlichkeit in ganz Europa verstanden werden können. Sie ordnete die Formierung von „Bewegungsparteien“ und das Experimentieren mit partei-förmigen Formaten durch soziale Bewegungen in einen sich zuspitzenden Widerspruch zwischen Kapitalismus und Demokratie ein.

Transnationalisierung des Lokalen: Umweltbewegungen

Neben den Spezifika lokaler Protestformen, war auch die Verbindung lokaler und globaler Zusammenhänge ein wiederkehrendes Thema.

Das Panel Lokaler Umweltprotest thematisierte die Proteste von Umweltbewegungen in Österreich, Ungarn und der Türkei. In den Vorträgen wurden lokale Umweltproteste als mehrdimensionale und multiskalare Phänomen verstanden. Dies gilt sowohl für ihre Entstehungsbedingungen, als auch für ihre komplexen Auswirkungen. Transnationalisierungsprozesse, Themenausweitung und das Hinzukommen neuer Akteur_innen sowie Gegenbewegungen waren für alle Bewegungen konstitutiv. Ayhan Bilgin (Artvin) zeigte am Beispiel von Protesten gegen Goldminen in zwei türkischen Regionen, dass die Bedrohung der Existenzgrundlagen lokaler Gemeinschaften zwar ein erstes Motiv der Proteste der lokalen Bevölkerung war, später jedoch die Themen zu globalen Meta-Themen wie Neoliberalismus, Imperialismus oder Demokratiequalität ausgeweitet wurden und sich damit auch das Akteursfeld ausweitete. Maria Buck (Innsbruck) veranschaulichte anhand der Alpenschutzbewegung in Tirol, die seit den 1970er Jahren gegen Umweltverschmutzung an der „Brenner“-Autobahn protestiert, wie der EU-Beitritt Österreichs den Protest hin zu einer stärkeren Adressierung der EU veränderte. Daniela Neubacher (Budapest) beobachtete divergierenden Formen der Transnationalisierung von Protest in den Staaten des „Warschauer Pakts“ bei den „Donauprotesten“ gegen den Bau von Staudämmen.

Einen spezifischen Strand der Umweltbewegung diskutierte auch das Panel Transnationale Verbindungen lokaler Proteste. Der Widerstand gegen die transgene Landwirtschaft in Südamerika. Thema waren die sozialen und politischen Konflikte um die transgene Landwirtschaft, die seit ihrer Einführung im Jahr 1996 in den USA und in Südamerika massiv ausgeweitet wird und Rohstoffe für die Produktion von Futtermitteln und Biokraftstoffen auch in Europa liefert. Die Vortragenden analysierten lokale Proteste in Brasilien und Argentinien, zweitgrößter und drittgrößter Produzent von genveränderten Pflanzen weltweit. Die ersten beiden Vortragenden Renata Motta (Berlin) und Markus Rauchecker (Berlin) fokussierten auf den Protest gegen die gentechnisch veränderte Organismen und Pestizide. Der dritte Vortragende, Mario Schenk (Berlin), präsentierte Landkonflikte, die durch den Anbau transgenen Sojas indirekt ausgelöst werden.  Die Beiträge zeigten, dass (trans-) nationale Allianzen mit Umwelt-NGOs und Wissenschaftler_innen und internationale Organisationen in lokalen Konflikten eine wichtige Rolle für die Wissensproduktion spielen. Allerdings benachteiligt die von staatlichen Akteuren nachgefragte Form des Wissens in schriftlicher und beglaubigter Form die Kleinbauern, deren Wissen nur mündlich existiert und eben nur vor Ort abgefragt werden kann. Die Beiträge des Panels machten klar, dass lokale Protestgruppen von der unterschiedlichen Unterstützung durch externe Akteure profitierten, aber auch dass die Zusammenarbeit an die Gegebenheiten vor Ort angepasst werden müsse.

Das Panel Lokale und globale Proteste vereinte drei sehr unterschiedliche Beiträge, die jeweils das Zusammenspiel mehrerer Ebenen in der Analyse von Protestereignisse in den Blick nahmen. Jan Matti Dollbaum (Bremen) gab zum Auftakt einen Einblick in seine Forschung zu Auswirkungen nationaler Protestwellen auf lokalen politischen Aktivismus in vier russischen Städten. Besonderer Fokus lag dabei auf den unterschiedlichen Organisationsprozessen während nationaler Protestwellen und deren Einfluss auf Einheit bzw. Fragmentierung von lokalen Bewegungsmilieus. Im Anschluss präsentierte Daniel Mikesz (Budapest) seine Arbeit zur Umweltbewegung in Ungarn. Er machte dabei deutlich, dass es bislang nicht gelungen ist, an eine globale Bewegung anzuknüpfen und Umweltproteste nahezu ausschließlich bei lokaler Betroffenheit als sogenannte „NIMBY“ Proteste erfolgen. Abschließend führte der Historiker Julian Lahner (Innsbruck) in seine Analyse eines Protestmarsches aus dem Jahre 1790 in Roveretto ein. Hierbei unterstrich er die Rolle spezifischer lokaler Verwaltungsstrukturen und administrativer Grenzen auf Exklusion und daraus resultierende Protest von Wanderarbeitern in der Region. Trotz bzw. möglicherweise gerade aufgrund ihrer Diversität in geographischer, theoretischer und methodischer Hinsicht führten die Beiträge zu einer anregenden Diskussion über die Vorzüge und Herausforderungen, Proteste mit Bezugnahme auf verschiedene (Verwaltungs-)Ebenen zu analysieren.

Die Polizei als lokaler Kontextfaktor

Ein wesentlicher und zugleich auch lokaler Kontextfaktor von Protest ist das Handeln der Polizei. Auf Gipfelproteste, insbesondere die gegen G20 in Hamburg, fokussiert, beschäftigte sich das Doppelpanel Einheit und Varianz im polizeilichen Umgang mit Gipfelprotesten mit den sozialen Bedingungen des polizeilichen Umgangs mit Protest (Organisation: AK Soziale Bewegungen und PolizeiAusführlicher Bericht). Peter Ullrich (Berlin) diskutierte die Frage, wie viel Einheitlichkeit polizeilichem Handeln bei Protestereignissen und seinen Grundlagen unterstellt werden dürfe. Mit einem Blick auf die internationale Polizeizusammenarbeit, sensibilisierte Hartmut Aden (Berlin) dafür, dass es sich bei der Polizei selbst schon um einen äußerst heterogenen Akteur handelt, was intraorganisationale Spannungen, lokale Unterschiede und Brüche zur Folge habe. Im zweiten Teil wurden Forschungsergebnisse aus dem Projekt „Mapping #NoG20“ präsentiert, dessen Ansatz und Kernergebnisse Peter Ullrich einleitend vorstellte. Nils Schumacher (Hamburg) zeigte, dass die Protest-Polizei-Interaktion im Rahmen der Proteste trotz der Außeralltäglichkeit des Gipfels, seiner Einbettung in transnationale politische Diskurse und einer starken Beteiligung von Personen aus dem  In- und Ausland nicht zu verstehen sei, ohne auch die spezifische lokale Rahmung in Betracht zu ziehen. So seien sowohl die Deutungs- und Handlungsrepertoires, die Zusammensetzung und die Verbindungen der verschiedenen lokalen Protestmilieus als auch das Vorgehen der Politik und der Polizei zutiefst geprägt vom lokalgeschichtlichen Kontext, insbesondere von den immer wieder auftretenden Auseinandersetzungen um Raum (u.a. Rote Flora). Auch die anderen Vorträge von Philipp Knopp (Wien) und Roman Thurn (München) verwiesen auf die lokalspezifische Einsatztaktik der Polizei bei Demonstrationen („Hamburger Linie“).

Protestbefragungen ‑ methodische Herausforderungen

Ziel des Panels Protestbefragungen ‑ methodische Herausforderungen war ein Austausch über Erfahrungen mit Protestbefragungen. Ausgangspunkt der Diskussion war dabei vor allem die Beobachtung, dass – trotz überwiegend positiver Reaktionen während der Demonstration – Rücklaufquoten bei den letzten vom ipb durchgeführten Online-Befragungen sehr niedrig waren und dadurch beispielsweise bei der Befragung der „We’ll come united“-Demonstration in Hamburg keine repräsentativen Aussagen über die Teilnehmer_innen der Demonstration mehr möglich waren. Die Rücklaufquote bei der Verteilung von Papierfragebögen ist dagegen deutlich höher. Da Befragungen mit gedruckten Fragebögen allerdings sehr hohe Kosten verursachen und zudem eine relativ langfristige Planung erfordern, wurde länger über Alternativen diskutiert. Vorgeschlagen wurde dabei insbesondere die Möglichkeit direkter Befragungen vor Ort, per App oder Fragebogen: Eine solche Strategie lässt sich allerdings nur bei stationären Kundgebungen realisieren. Bei laufenden Demonstrationen könne nur ein stark reduzierter Fragebogen zum Einsatz kommen. Fraglich ist auch, ob eine solche Strategie zu einem zusätzlichen Selektionsbias führt. Diskutiert wurde zudem eine Kombination von Befragungen vor Ort und Online-Befragungen, die aber nur funktioniere, wenn die Befragten bereit seien, einen E-Mail-Kontakt anzugeben, was zu schwerwiegenden Problemen hinsichtlich der Anonymität der Daten führt. Vor diesem Hintergrund wurden technische Möglichkeiten der anonymen Kontaktaufnahme erörtert.

Vorstellung ipb-Projekt „Lokale Konfliktkonstellationen“

Ein zentraler Moment auf der Tagung war die Vorstellung des kooperativen ipb-Projekts „Lokale Konfliktkonstellationen“. Der Gedanke dabei ist, neue Möglichkeiten kollektiver Wissensproduktion jenseits der üblichen Antragslogik zu entwickeln. Dazu wurde das Konzept eines kollaborativen Projekts von Michael Neuber, Peter Ullrich und Dieter Rucht vorgestellt und diskutiert. In dem Projekt soll es um eine vergleichende Erforschung der Kontextbedingungen lokaler Konflikte und Proteste gehen. Ankerpunkt bildet ein Konzept welches für die Erforschung zwei Berliner Stadtbezirke entwickelt wurde. Hauptpunkt der Diskussion war die Übertragbarkeit des theoretischen und methodologischen Ansatzes als eine Art Musterforschungsdesign auf andere Städte Deutschlands aber auch auf den internationalen Bereich, insbesondere Südamerika. Im Gespräch wurden Kooperationsmöglichkeiten und Optionen für die Durchführung von Qualifikationsarbeiten diskutiert.

Diskussion: Protestforschung, politische Positionierung, politischer Auftrag

Zum Abschluss der Tagung diskutierten die Teilnehmer_innen unter dem Motto Protestforschung, politische Positionierung, politischer Auftrag. Nach einer kurzen Einführung von Sebastian Haunss (Bremen) stellten Simon Teune (Berlin) und Peter Ullrich (Berlin) vier Thesen zur Diskussion:

  1. Die Diskussion um die politische Dimension von Protestforschung muss immer die Rahmenbedingungen und den Wandel des wissenschaftlichen Feldes berücksichtigen. Prägende Merkmale sind Projektförmigkeit, Konkurrenz und Nachfrage nach spezifischer Expertise.
  2. Protestforscher_innen können sich nicht nicht positionieren. Wertfreiheit ist, erst recht angesichts des Gegenstands nicht möglich. Stattdessen sollte Bewegungsforschung transparent sein und ihre Rahmenbedingungen und Interessen offenlegen.
  3. Die Bewegungsforschung ist oft zu stark auf ihren unmittelbaren Gegenstand fixiert. Eine Auseinandersetzung über das Feld hinaus und eine Stärkung theoretischer und methodischer Grundlagenperspektiven ist anzustreben.
  4. Notwendig ist nicht nur eine wissenschaftliche Diskussion der Forschungsergebnisse, sondern auch eine Auseinandersetzung mit den sich wandelnden Ansprüchen und Kontexten der wissenschaftlichen Produktion im Sinne von Metadiskussionen.

Öffentliche Diskussionsveranstaltung: Rechte Proteste und lokale Gegenmobilisierung

Dieter Rucht, Sabrina Zajak, Theresa Hartmann, Johannes Richter

Am Freitagabend diskutierten Theresa Hartmann vom Bündnis #Unteilbar und Johannes Richter von der Courage Werkstatt für demokratische Bildungsarbeit in Dresden mit ipb-Vorstand Dieter Rucht und Moderatorin Sabrina Zajak über mögliche Wechselwirkungen von rechten Protesten und Gegenprotesten (→ ausführlicher Bericht). Die #unteilbar-Demonstration in Berlin zog Zehntausende auf die Straße. Auch in München, Chemnitz und anderswo stellen sich lokale Protestbündnisse rechten Mobilisierungen und rechter Stimmungsmache entgegen. Welche Wirkungen gehen von diesen Gegenprotesten aus? Die direkte Gegenüberstellung führe unter Demonstrierenden beider Seiten zu einer starken Emotionalisierung der Debatte und letztlich zu einer Stärkung kollektiver Identitäten, so die Vermutung. Offen sei dabei inwieweit diese konflikthafte Aufladung der Proteste Mobilisierungsprozesse außerhalb der Kerngruppen begünstige oder erschwere. In der Bewertung war man sich einig: Lokale Gegenproteste haben eine unmittelbare Wirkungskraft, da diese zum Teil rechte Kundgebungen verhinderten oder zumindest deutlich einschränkten.

Insgesamt wurden auf der Jahrestagung viele Varianten und Facetten, theoretische und empirische Zugänge zu den Kontexten lokaler Proteste diskutiert. Die Beiträge zeigten, dass die Hinwendung zu konkreten, lokal verankerten Formen von Protest notwendig ist, es wurde aber auch deutlich, dass es kaum Theorieangebote gibt, die konzeptionell die vielfältigen Ausdrucksformen und Forschungsperspektiven auf lokale Proteste zusammenbringen könnten.

 


Der Bericht basiert auf den Zusammenfassungen der Panelverantwortlichen. Vielen herzlichen Dank an Maik Fielitz, Philipp Knopp, Armin Scholl, Peter Bescherer, Norma Tiedemann, Christian Chappelow, Verena Stern, Melanie Kryst, Elias Steinhilper, Bernadette Hof und Markus Rauchecker.

 


[1] Mittlerweile sind 13 Arbeitskreise im Institut für Protest- und Bewegungsforschung organisiert. Die Beteiligung an den Aktivitäten der Arbeitskreise ist jederzeit möglich.

[2]  Ziel des AK Migration (vorläufiger Name) ist es, Forscher_innen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, die sich auf unterschiedliche Weise mit Mobilisierungen, Konflikten und Migrationsphänomenen beschäftigen, zusammenzubringen. Der AK soll als Grundlage für gemeinsame Aktivitäten wie Workshops sowie als Vernetzung für potentielle gemeinsame Projekte und Publikationen dienen. Dabei ist auch eine Zusammenarbeit mit anderen AKs des ipb (wie dem AK Stadt/Raum oder dem AK Rechte Protestmobilisierungen) vorgesehen. Thematisch Interessierte sind herzlich eingeladen, den AK aktiv mitzugestalten!

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