Viel Bewegung – Wenig Forschung? Auftaktkonferenz des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung
Am 19. und 20. Juni 2013 fand im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung die Tagung „Viel Bewegung – Wenig Forschung?“ statt. Sie wurde vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung i. G. (ipb) organisiert. Ziel der Auftaktkonferenz war es, das Institut der (Fach-)Öffentlichkeit vorzustellen, eine Bestandsaufnahme und Reflexion über dieses Forschungsfeld anzuregen, dadurch Hinweise für die anstehende Arbeit zu erhalten und Kooperationsmöglichkeiten mit anderen Einrichtungen auszuloten. Schon im Vorfeld der Tagung zeigte sich aufgrund der hohen Zahl von Anmeldungen, dass das Interesse sehr groß ist.
Dementsprechend wurde vom Wissenschaftszentrum Berlin für einen Teil der Tagung eine Videoübertragung im Internet ermöglicht. Das Programm war vielfältig. Neben inhaltlichen Attraktionen zeichnete es sich auch durch die Einbeziehung experimenteller Präsentationsformen aus, die eine rege Beteiligung und dichte Interaktion der Tagungsteilnehmer ermöglichten. Es warf damit schon ein Vorgriff auf die Zukunft des Instituts, welches einen regen Austausch mit der Öffentlichkeit anstrebt.
Zu Beginn begrüßte Heike Walk, Geschäftsführerin des Instituts, die TeilnehmerInnen und stellte die Institutsidee vor. Frank Nullmeier aus Hamburg präsentierte die Buchreihe „Bürgergesellschaft und Demokratie“, die personelle und thematische Überschneidungen mit den Institutsprojekt ipb aufweist und die Tagung finanziell unterstützte. Danach ging es auf verschiedenen Ebenen um Ziele, Möglichkeit und Grenzen, Institutionalisierung und wissenschaftliche Weiterentwicklung der Forschung zu sozialen Bewegungen und Protest.
Werkzeugkasten der Protestforschung
Der erste thematische Block sollte einen Einblick in den „Werkzeugkasten“ der Bewegungsforschung bieten. Dem dienten sechs Pecha Kucha-Präsentationen zu methodischen Zugängen zu sozialen Bewegungen (Protestereignisanalyse – Swen Hutter, Biografieanalyse – Alexander Leistner, teilnehmende Beobachtung – Christoph Haug, Aktionsforschung – Fabian Frenzel, Inhaltsanalyse und Diskurs-/ Deutungsmusteranalyse – Ruud Koopmans, standardisierte Befragung von Demonstrierenden – Simon Teune). Diese Präsentationstechnik sieht vor, dass jeder Vortrag durch 20 Bilder strukturiert wird, die jeweils 20 Sekunden gezeigt werden. Infolgedessen kam es zu kurzweiligen, rasanten und sehr eindrücklichen Präsentationen, die zeigten, wie vielfältig Protestforschung sein kann.
Protestforschung – für wen?
Das anschließende World Café war darauf angelegt, den Austausch zwischen WissenschaftlerInnen auf der einen Seite und Personen in den Bereichen politischer Aktivismus, Journalismus, politische Bildung, Kultur und politische Institutionen auf der anderen Seite herzustellen. Dieses Diskussionsformat bot allen Teilnehmenden die Gelegenheit, die Rolle der Forschung in der gesellschaftlichen Debatte zu Protesten und sozialen Bewegungen zu bewerten. Ausgehend von den sechs verschiedenen Tätigkeitsfeldern wurde debattiert, zu welchen Themen und Fragen akademisches Wissen vonnöten sei und in welcher Form es zugänglich gemacht werden sollte. In den Debatten spiegelten sich die sehr unterschiedlichen Ansprüche außerakademischer Bereiche an die Wissenschaft wider. Das Spektrum reichte von der Idee einer eingreifenden Forschung zu Gunsten derer, die in politischen Kämpfen aktiv sind, bis zum Wunsch nach einer distanzierten Expertise, die Orientierung im aktuellen Protestgeschehen geben kann. Einigkeit bestand darüber, dass Protestforschung über den akademischen Betrieb hinaus sichtbar und verfügbar sein sollte und die ForscherInnen sich dabei ihrer Rolle in gesellschaftlichen Debatten bewusst sein sollten. Die stete Reflexion der eigenen Rolle in einem Feld umkämpfter Deutungen und heterogener Ansprüche bleibt eine Herausforderung für die Protestforschung.
Bewegte Bilder
Im Anschluss an das World Café zeigte der Berliner Fotograf Stefan Boness eine eindrucksvolle Bildserie von Einzelpersonen oder Kleingruppen, die zu ganz verschiedenen Themen mit zum Teil sehr originellen Schildern und Slogans ihren Protest bekundeten.
Podium – Konflikte in der Stadt
Die ReferentInnen der am späten Nachmittag des ersten Konferenztages beginnenden Podiumsdiskussion setzten sich aus Wissenschaft und politischer Praxis zusammen: Beteiligt waren Katharina Brichetti (TU), Andrej Holm (HU), Margit Mayer (FU), und Luise Neumann-Cosel (Initiative Bürgerenergie Berlin). Die Moderation oblag Martin Kaul (taz). Im Zentrum der Diskussion standen städtische Konflikte am Beispiel Berlins. Zentrale Fragen lauteten: Welche stadtpolitischen Bewegungen sind in Berlin erkennbar und was zeichnet sie aus? Wie verhalten sich die unterschiedlichen Bewegungen zueinander?
In Berlin gibt es eine Reihe von stadtpolitischen Mobilisierungen, wie z.B. Mediaspree versenken, Mieterproteste sowie Initiativen gegen die Privatisierung der Wasser- und Energieversorgung. Diese sind weitaus weniger militant als in Brasilien und nicht so gut vernetzt bzw. nachbarschaftlich organisiert wie in Istanbul oder Spanien. Kennzeichnend für die stadtpolitischen Bewegungen Berlins ist zudem ihre Fragmentierung. Auch deshalb ist es nur wenigen Gruppen gelungen, politische Forderungen durchzusetzen.
Ein neues Phänomen im Zusammenhang mit den Gentrifizierungsprozessen sind die in die Öffentlichkeit drängenden Hausgemeinschaften. Diese Initiativen führen zur Kollektivierung und Politisierung von offensichtlich wachsenden Problemen, die durch individuelle Kompensationsstrategien immer weniger zu bewältigen sind. Damit werden stadtpolitische Probleme, die sich als Folge neoliberaler Politik zeigen, zunehmend von unmittelbar Betroffenen artikuliert und in die Öffentlichkeit getragen.
In Berlin lässt sich gegenwärtig beispielhaft beobachten, wie florierende Städte, die eine gute Mischung aus Wohnen, materieller Infrastruktur und kulturellen Aktivitäten vorweisen, nach den Vorstellungen globalen Eliten und Investoren ausgerichtet werden. Die Berliner Regierung und Verwaltung unterstützt diesen neoliberalen Kurs, indem sie ihr Leitbild einer urbanen, lebendigen und kleinteiligen Struktur aufgibt, sobald große Investoren andere Projekte favorisieren. Das Alexa-Einkaufszentrum am Alexanderplatz ist nur eines von vielen Beispielen. Damit steuert Berlin in eine Richtung, die wachsende Proteste wahrscheinlich macht.
Rückblick und Überblick
Der zweite Konferenztag begann mit einem kleinen Einblick in die Anfänge der Bewegungsforschung in Deutschland. In einer von Dieter Rucht gestalteten Video-Dokumentation erzählten Joachim Raschke (Hamburg) und Karl-Werner Brand von ihren Motiven und ihren Schwierigkeiten beim Einstieg in dieses damals kaum beackerte Themenfeld. Auch hier schon ging es um das Spannungsfeld von (erst noch zu entwickelnder) Wissenschaft und eigener Position im politisch bewegten Feld.
In den folgenden sechzig Minuten konnten sich die TeilnehmerInnen über einzelne Institute und Schwerpunkte der Bewegungsforschung anhand von Kurzvorträgen, Schautafeln und weiterem Material informieren. Vertreten waren insgesamt acht Institutionen: das Institut für Soziale Bewegungen aus Bochum, das Forschungsjournal Soziale Bewegungen, das Zentrum für Sozialpolitik aus Bremen, das European University Institute aus Florenz, das Centre de Recherche sur l’Action Politique der Universität Lausanne, das DFG-Nachwuchsnetzwerk Neue Perspektiven auf Soziale Bewegungen und Protest, und das Göttinger Institut für Demokratieforschung. Von diesem Angebot wurde ein intensiver Gebrauch gemacht.
Durchblick – drei ExpertInnensichten auf die künftige Protestforschung
Im Rahmen des leicht ironisch mit „Durchblick“ titulierten Panels erörterten Friederike Habermann, Nicole Deitelhoff und Roland Roth in jeweils zwanzigminütigen Vorträgen ihre Perspektive auf „Herausforderungen für die Bewegungsforschung“. Die drei Leitfragen lauteten: Was sind die Schwachstellen in der Bewegungsforschung? Wie lässt sich die Bewegungsforschung in der Wissenschaftslandschaft verorten? Hat sich der Bewegungsbegriff in Wissenschaft und Praxis verändert? Als Theorielücken und vernachlässigte Perspektiven wurden vor allem Hegemonietheorien, Demokratietheorien und die transnationale Perspektive benannt. Unterschiedliche Standpunkte gab es bezüglich der Frage, ob Bewegungsforschung in der deutschen Wissenschaftslandschaft unterrepräsentiert und kaum institutionalisiert ist oder ob sie bereits, etwa in der Forschung zur Internationalen Politik, erfolgreich in eine Reihe sozialwissenschaftlicher Teildisziplinen eingesickert ist.
Rundblick – die Sicht der Teilnehmenden
Die anschließende Fishbowl-Session, die in zwei getrennten Runden durchgeführt wurde, bot die Gelegenheit, die Fragestellungen der drei Kurzvorträge aufzugreifen und zu diskutieren. Bei diesem Format diskutieren ausschließlich die wenigen in einem kleinen Innenkreis Sitzenden, der von einem großen Außenkreis der ZuhörerInnen umgeben ist. Diese können jedoch jederzeit Plätze im Innenkreis und damit eine SprecherInnenrolle einnehmen. Das ungewöhnliche Format ermöglichte eine lebendige Diskussion jenseits des Korsetts einer RednerInnenliste.
Während anfangs zunächst noch die (inhaltliche) Frage debattiert wurde, ob aufgrund jüngerer Entwicklungen die Einführung eines neuen Bewegungsbegriffs sinnvoll erscheint, konzentrierte sich die Diskussion schon bald auf die die gesamte Konferenz über immer wieder thematisierte Problematik, dass Bewegungsforschung in Deutschland kaum institutionalisiert ist. Doch hier herrschte keineswegs Einigkeit. Es wurde, wenngleich deutlich minoritär, die Position vertreten, die Protestforschung habe sich als normaler Bestandteil innerhalb vieler Fachbereiche, Studiengänge und Projekte bereits etabliert, allerdings nicht in Form von Professuren für Protestforschung.
Ob diese niedrige institutionelle Verankerung als ein Manko oder auch als Chance zu bewerten ist, blieb kontrovers: Einerseits wurde die Unabhängigkeit und Freiheit, die daraus resultiert, hervorgehoben, andererseits die damit verbundene Prekarisierung von BewegungsforscherInnen, die fehlende fach- und sachbezogene Ausbildung sowie die Unmöglichkeit langfristig orientierter Forschung.
Ausblick
Drei Vorträge und die nachfolgenden Fishbowl-Diskussionen boten Stoff für eine plenare Abschlussdiskussion, die von Peter Ullrich moderiert wurde. Das Dauerthema der gesamten Konferenz wurde auch an dieser Stelle erneut besprochen: die defizitäre Institutionalisierung der Protest- und Bewegungsforschung.. Daneben brauche es auch Netzwerke und Strukturen des inhaltlichen Austausches abseits der Drittmitteleinwerbung. Auch die thematische Einordnung in aktuelle Debatten um Demokratie und die Aushöhlung der Demokratie im Zeichen radikaler Marktorientierung wurde zur Diskussion gestellt. In diesem Kontext wurde die aufgrund ihres Auftraggebers British Petrol in die Kritik geratene Proteststudie des Göttinger Institut für Demokratieforschung angesprochen, verbunden mit der grundsätzlichen Frage der Forschungsfinanzierung durch „interessengeleitete“ Angebote aus der Wirtschaft – ohne klare Ergebnis, aber mit dem Willen zur Weiterführung und dem Bekenntnis zur Notwendigkeit der Diskussion und Reflexion solcher Themen.
Das ipb wurde allgemein als ein hoffnungsvolles Zeichen gewertet und mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht. Es sei ein Aufbruch, könne zum Kristallisationspunkt für vielfältige Forschungsinitiativen und Kooperationen sein. Konkrete Angebote kamen aus mehreren Forschungseinrichtungen in Deutschland.
Ein abschließender Dank galt den logistischen bzw. finanziellen Förderern der Konferenz: WZB, TU Berlin und der Buchreihe „Bürgergesellschaft und Demokratie“. Mit anregendem Ideen, reichhaltigen Eindrücken und neuen Kontakten ging eine erfolgreiche Konferenz zu Ende, die entsprechende Erwartungen in ihre schon angekündigte, diesmal international ausgerichtete Nachfolgerin im kommenden Jahr weckte.