Peter Ullrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Protest- und Bewegungsforschung, hat seine zweite Monographie zum Diskurs über den Nahostkonflikt und Antisemitismus in der Linken publiziert. Neben seiner Dissertation ist zuvor auch eine kommentierte Bibliographie zum Thema erschienen. In dem neuen Buch „Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt“ zeichnet er Lernprozesse in der hitzig geführten Debatte nach und ordnet das Thema in eine breitere Diskussion über Partikularismen in der Linken ein. Simon Teune hat ihn zu dem Buch befragt.
Simon Teune: Es ist schon viel über den Nahostkonflikt und Antisemitismus in der Linken gesagt und geschrieben worden. Welche neue Perspektive auf das Thema eröffnet ein wissenssoziologischer Zugang?
Peter Ullrich: Das ist zunächst eine Positionierung innerhalb der Protestforschung. Mir geht es nicht, wie so häufig, um Kampagnen, deren Erfolgsbedingungen oder Wirkungen. Ich interessiere mich dafür, wie Wissen in Bewegungen zustande kommt. Mit Wissen ist allerdings viel gemeint als im umgangssprachlichen Sinne. Es geht um Weltdeutungen, Ideologien, aber auch den Leuten selbstverständliche Annahmen über sich und ihre tägliche politische Praxis. Diese Forschungshaltung nimmt die Akteure mit ihren Anliegen ernst, analysiert diese aber hinsichtlich ihrer Gewordenheit. Es geht um die diskursiven Bedingungen, die bestimmte Sichtweisen nahelegen oder wahrscheinlicher machen. In dem konkreten Fall spielt natürlich der nationale Kontext eine große Rolle. Alle, zum Teil schrill anmutenden, Positionierungen sind Teil des deutschen Erinnerungsdiskurses, bei dem es darum geht, sich mit dem Nationalsozialismus und dem NS-Judenmord auseinanderzusetzen, diese Auseinandersetzung zu umgehen oder sie gar ins Zentrum aller Weltdeutungen zu stellen. Und dann stößt man aber auch darauf, dass mit bestimmten Brillen im Diskurs, beispielsweise Antisemitismus, einiges eher verdunkelt anstatt erhellt wird. Oft gibt es da ein starkes Auseinanderfallen von Intentionen und dem, wie bestimmte Äußerungen oder Kampagnen in der Öffentlichkeit aufgenommen werden, oder Brüche zwischen Intentionen und den manifest transportierten Inhalten (beispielsweise unreflektierten diskriminierenden Bildern und Stereotypen). Die linke – und die gesamte deutsche – Debatte aber übt sich weniger im Ausloten dieser Komplexität als im Versuch einfacher Täter-Zuschreibungen. Antisemitismus steht dann schnell als Vorwurf im Raum, manchmal berechtigt, manchmal unberechtigt, oft in einer analytischen Grauzone. Diesen nicht sehr selbstreflexiven Diskurs nenne ich deshalb den „Antisemitismus der anderen“.
Du hast schon angedeutet, dass das Buch neben Antisemitismus auch andere Formen der Diskriminierung in der Debatte über den israelisch-palästinensischen Konflikt einbezieht. Wie kommen Rassismus und Islamfeindlichkeit da ins Spiel?
Ähnlich wie der Antisemitismus. Man solidarisiert und identifiziert sich mit einer Seite und kritisiert die andere, aber häufig mit einer Tendenz zur Dämonisierung dieser. Damit wird man auch anschlussfähig für weit verbreitete Ungleichwertigkeitsideologien. Die durchaus berechtigte und notwendige Kritik an Selbstmordattentaten, Antisemitismus und Islamismus in der palästinensischen Gesellschaft hat dann bei einigen israelsolidarischen Kräften zu einem monolitischen Bild von Palästinenser/innen und dem Islam geführt, welches durch und durch stereotyp und abwertend ist. Sehr häufig wird von hier aus der Konflikt ausschließlich im erinnerungspolitischen Korsett gedeutet. Das ist aber wenig hilfreich, wenn man beispielsweise verstehen will, warum Palästinenser/innen so handeln, wie sie es tun. Was da deutlich wird, hat Cengis Barskanmaz zu Recht „deutschen Exzeptionalismus“ genannt – die unzulässige Übergeneralisierung von Maßstäben, die aus unserer partikularen Geschichtserfahrung abgeleitet werden. Das führt einerseits dazu, dass Sensibilität gegenüber antisemitischer Ideologie besteht, andererseits Phänomene dekontextualisiert werden und der reale Konflikt um Lebenschancen in Palästina vollkommen in den Hintergrund tritt.
Die Debatte wird in Deutschland ja sehr heftig geführt und gerade zu Beginn der 00er Jahre schien keine Verständigung mehr möglich. Du berichtest von Lerneffekten. Gibt es im linken Umgang mit Israel und Palästina Umschlagpunkte, an denen sich diese Lerneffekte kristallisieren?
Naja, es gibt immer wieder Punkte, an denen sich die Diskussion zuspitzt. Das waren meist kriegerische Auseinandersetzungen in Nahost oder Wandlungen in den hier wichtigen Rahmenbedingungen, also 1965 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und Israel. Aber die Diskussion wurde zugleich auch immer von erinnerungspolitischen Ereignissen hier beeinflusst, denn im Kern ist es ja, wie gesagt eine erinnerungspolitisch geformte Debatte. Da spielt die Wende 1989/90 eine große Rolle, aber auch die Wandlungen im Geschichtsdiskurs (Stichwort [Wieder-]Entdeckung der Deutschen als „Opfer“). Lerneffekte, also das Entstehen ausgewogenerer, komplexerer, weniger identifikatorischer linker Positionen, sind m.E. mittlerweile aber Ausdruck eines kontinuierlichen Prozesses. In der Bundesrepublik sind Solidaritäten mit verschiedenen Konfliktseiten fest institutionalisiert und ihre völlig inkompatiblen aber jeweils hoch anschlussfähigen Deutungsmuster (Besatzung vs. Antisemitismus) prallen dauerhaft aufeinander. Das führt zu viel Reibungsverlusten, aber auch zu Metakommunikation und dem Bedarf nach „argumentativer Wappnung“. Menschen argumentieren schon allein deshalb komplexer, vorsichtiger, abgewogener, weil sie den zu erwartenden Widerspruch antizipieren. Andere haben über den Metadiskurs ausgewogene Positionen erreicht, die beide Konfliktseiten und die Situation hier in ihrer jeweiligen Widersprüchlichkeit wahrnehmen können. Trotz extremer Einzelpositionierungen, die es weiter gibt, ist der Gesamtdiskurs also hoch komplex und nachwachsende politische Generation scheinen sich mir mehr und mehr den ganz simplen Identifikationsmustern zu entziehen.
Du hast die Reibungsverluste angesprochen. Wie ist die Diskussionsatmosphäre bei dem Thema heute?
Die Zeiten, wo politische Projekte und private Beziehungen an der Nahost- und Antisemitismusdiskussion zerbrechen oder man sich gar gewalttätig attackiert, scheinen mir vorbei. Die meisten Diskussionen laufen inzwischen ganz zivil ab. Die Lager sind einerseits abgesteckt, andererseits gibt es neue Versuche über solche Grenzen hinweg (in anderen Feldern) politikfähig zu werden, beispielsweise bei den Protesten gegen die EZB in Frankfurt. Aber es gibt immer wieder Momente, wo die Nahost- und Antisemitismusdebatte in unschöner Form aufplatzt. Bei den Blockupyprotesten gab es in einem Flugblatt der linken Liste den Vorwurf, die gesamte Occupy-Bewegungung sei ein antisemitischer Pogromistenhaufen. Und die Fraktion der Linken im Bundestag stand 2011 am Rande des Bruchs, nachdem die Partei Antisemitismusvorwürfe einstecken musste, die zwar reale Anlässe hatten, aber völlig haltlos übertrieben wurden. Und persönlich erlebe ich es auch immer mal wieder, entweder als Antisemitismusverharmloser oder als Teil der ‚zionistischen Lobby‘ beschimpft zu werden. Beides will ich ganz bestimmt nicht sein. Aber das wird weniger.
Peter Ullrich: Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs. Unter Mitarbeit von Daniel Bartel, Moritz Sommer und Alban Werner. Mit einem Vorwort von Micha Brumlik. Göttingen: Wallstein 2013. 207 Seiten, € 19,90 (D) | € 20,50 (A) | SFr 27,90
Am 31.10. gab es eine Buchvorstellung in einer Veranstaltung des Zentrums für Antisemitismusforschung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der Vortrag des Autors und ein Kommentar von Micha Brumlik sind nun online: