Blog

Potential und Herausforderungen von Protestbefragungen in diversen Gesellschaften

Kurzbericht und Reflektionen zur Demonstrationsbefragung bei „We’ll Come United“ am 29.09.2018 in Hamburg

Sabrina Zajak & Elias Steinhilper

Spätestens seit dem „Sommer der Migration“ 2015 lässt sich eine starke Aktivierung und Politisierung der Zivilgesellschaft in Deutschland beobachten, die sich in verschiedenen Formen der Mobilisierung für und gegen die Anwesenheit und/oder gesellschaftliche Teilhabe von Migrant*innen ausdrückt. Allein im so-genannten „Herbst der Solidarität“ 2018 gingen in einer Reihe von Großdemonstrationen insgesamt mehrere 100.000 Menschen für eine offene, diverse Gesellschaft auf die Straße. Während sich die mediale Berichterstattung zumeist auf die Organisator*innen der Proteste konzentriert, ist über die Teilnehmenden oft wenig Belastbares bekannt, was Raum für Spekulation sowie Idealisierung und Diffamierung lässt.

Um perspektivisch ein differenzierteres Bild von Protest im postmigrantischen Deutschland zeichnen zu können, hat das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung gemeinsam mit dem Institut für Protest- und Bewegungsforschung bei der  Demonstration „We’ll Come United“ (WCU) am 29. September 2018 in Hamburg einen ersten Versuch unternommen, derartige Protestereignisse mit Hilfe der Methode der Demonstrationsbefragung zu erheben. Zwischen 20.000 (Polizeiangaben) und 30.000 (Angaben der Veranstalter*innen) Menschen gingen dort auf die Straße, um gegen Rassismus und für eine offene Gesellschaft zu protestieren. Zu der Demonstration aufgerufen hatte ein Bündnis von 450 Gruppen, vor allem Flüchtlingsinitiativen und selbst-organisierte Gruppen von Geflüchteten. Noch nie konnte in Deutschland ein solches Bündnis eine derartig große Demonstration auf die Beine stellen.

Unser Versuch mehr über die Zusammensetzung dieses vielfältigen Protests zu erfahren stieß allerdings an seine Grenzen. Aufgrund der geringen Rücklaufquote der Fragebögen und einer damit verbundenen Verzerrung der Stichprobe haben wir uns gegen eine Veröffentlichung der Ergebnisse entschieden. Wir haben bei der Durchführung der Studie viel gelernt und möchten hier einige unserer Einsichten teilen. Zudem möchten wir uns bei den 26 Helferinnen und Helfern bedanken, die bei der Befragung mitgewirkt haben und deren Beobachtungen und Eindrücke mit in die folgenden Überlegungen einfließen. Denn es lassen sich aus dieser Erfahrung wichtige Schlüsse über Chancen und Herausforderungen von Protestbefragungen allgemein und in diversen postmigrantischen Gesellschaften im Besonderen, ableiten. Heterogenität der Herkunft, Lebensverläufe und politische Sozialisation prägen gegenwärtige Proteste bereits jetzt mit, und – so unsere starke Vermutung – werden zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen. Zu einer dringend notwendigen theoretischen und methodischen Öffnung möchten wir hiermit beitragen.

Die Methode der Protestbefragung

Protestsurveys sind mittlerweile eine etablierte Methode in der Bewegungsforschung. Im Gegensatz zu anderen Umfragemethoden, bei denen zufällig ausgewählte Menschen am Telefon oder zu Hause befragt werden, werden bei Demonstrationsbefragungen diejenigen befragt, die tatsächlich an den Protesten teilnehmen. Wissenschaftler*innen, die im Institut für Protest- und Bewegungsforschung zusammengeschlossenen sind, haben dieses Verfahren schon früher verwendet, beispielsweise bei den Protesten gegen den Irakkrieg (2003), gegen Hartz IV (2004), bei der Montagsdemonstration gegen Stuttgart 21 (2010), den Pegida-Demonstrationen in Dresden (2015), bei der TTIP Demonstration (2015) und den G20-Protesten in Hamburg (2017). Besonders die Befragung einer Pegida-Demonstration durch das ipb haben die surveybasierte Protestforschung „ans Limit“ geführt. Auch die WCU-Befragung macht spezifische Herausforderungen deutlich.

Die aktuelle Befragung der WCU-Demonstrierenden wurde online durchgeführt. Dafür haben insgesamt 26 Personen jeweils zu zweit per Zufallsprinzip Demonstrationsteilnehmende angesprochen und ihnen einen Handzettel mit einem einmalig verwendbaren Zugangscode zur Befragung ausgehändigt, verbunden mit der Bitte, sich an der Befragung zu beteiligen. Die Auswahl der Befragungsteilnehmenden fand sowohl während der Auftaktkundgebung auf dem Hamburger Rathausmarkt als auch an mehreren Abschnitten des Demonstrationszuges statt. Um den Einfluss von Sympathien und Vorbehalten zu minimieren wählte in den Zweierteams jeweils eine Person nach einem zuvor festgelegten Schema den/die anzusprechende Demonstrationsteilnehmer*in aus und notierte dessen/deren Geschlecht und grob geschätztes Alter, während die andere Person den Handzettel aushändigte. Da wir von einer diversen Zusammensetzung der Demonstration ausgingen, wurden Handzettel in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Arabisch, Türkisch und Dari angeboten. Auch die Teams der Handzettelverteiler wurden mehrsprachig besetzt und erhielten vor der Befragung eine Schulung. Solch eine Vielsprachigkeit in der Demonstrationsbefragung gab es bisher in Europa noch nicht.

Der Handzettel enthielt einen Link und einen scanbaren QR-Code, der zu der Online-Befragung führte. Mit dem für jeden Handzettel individuellen Zugangscode wurde der Zugang zum Fragebogen freigeschaltet. Diese Beschränkung zielt darauf ab, dass sich nur diejenigen an der Befragung beteiligen, die während des Protests per Zufall ausgewählt wurden. Eine individuelle oder durch Gruppen gesteuerte Beteiligung „von außen“ und damit eine mögliche Verzerrung oder gar Manipulation werden durch dieses Verfahren deutlich erschwert.

Die Fragen, die in die Untersuchung eingeflossen sind, zielen auf die soziale Zusammensetzung der WCU-Demonstrierenden, auf ihre Motivation und Mobilisierung, d.h. die Prozesse, die zu ihrer Teilnahme geführt haben, auf ihre Protesterfahrung und ihre politische Selbsteinordnung. Diese Fragen entsprechen Standardfragen in Protestsurveys, die damit einen Vergleich früheren Protestsurvey ermöglichen. Ein Teil der Fragen ist darüber hinaus repräsentativen Befragungen wie der Allgemeinen Bevölkerungsbefragung der Sozialwissenschaften entnommen, um Vergleiche zur Gesamtbevölkerung ziehen zu können. Als Neuerung wurden bei der WCU-Befragung auch Themen und Fragen aus der Integrations- und Migrationsforschung aufgenommen. Dazu zählen beispielsweise Fragen zu Diskriminierungserfahrungen, Identität oder politische Aktivitäten in den Herkunftsländern.

Diese Fragen sind besonders relevant für unser Verständnis von Demonstrationen in postmigrantischen Gesellschaften, da nur so auch die Erfahrungen und Lebenswelten von Personen mit Migrationshintergrund berücksichtigt werden können. Mit anderen Worten: Wir sind der Ansicht, dass die bisherige Protestforschung der Realität hinterherhinkt. Sie geht oftmals von zu homogenen und privilegierten Protestakteuren aus und erfasst die diverse Realität von Migrationsgesellschaften nur unzureichend.

Insgesamt wurden während der Demonstration am 29. September 1.115 Personen angesprochen (siehe Tabelle 1). Davon haben 960 Personen den Handzettel angenommen. Bis einschließlich 3. Oktober hatten sich 119 Personen an der Umfrage beteiligt, 109 Personen haben den Fragebogen vollständig ausgefüllt. Das entspricht einer Rücklaufquote von 12,4 Prozent. Damit ist der Rücklauf niedriger als bei anderen Demonstrationen, bei denen ebenfalls Befragungen durchgeführt wurden.

Tabelle 1: Übersicht Stichprobe und Rücklauf

Warum wollen wir nun auf der Basis der ausgefüllten Fragebögen keine Aussage über die WCU- Demonstrierenden machen? Eine Rücklaufquote von 12,4Prozent ist erstens sehr gering, und zweitens wird deutlich, dass sich die Umfrageteilnehmenden systematisch von Nicht-Antwortenden unterscheiden.

Während der Verteilung der Handzettel wurden Daten über Geschlecht und Alter der angesprochenen Demonstrationsteilnehmer*innen gesammelt sowie zur Sprache der ausgegebenen Handzettel. Hinsichtlich dieser Merkmale ist folgendes festzustellen: die Daten zur Verteilung der Geschlechter weichen nur geringfügig voneinander ab. In Bezug auf das Alter scheinen überproportional die älteren Teilnehmenden, bspw. die Altersgruppe 40-65 Jahre die Handzettel ausgefüllt zu haben (Tabelle 1, Zeile 4). Darüber hinaus wird deutlich, dass erstens überwiegend deutsch-sprachige Handzettel verteilt wurden und zweitens, dass von den knapp 15 Prozent derer, die einen nicht-deutschsprachigen Handzettel angenommen haben, nur zwei Personen tatsächlich an der Umfrage teilgenommen haben. Aufgrund dieser zwei bedeutsamen Verzerrungen, ist die Umfrage nicht repräsentativ für die Teilnehmenden der Demonstration.

Spezifische Herausforderungen der Protestbefragung in diversen Kontexten

Aus diesen Erfahrungen leiten sich eine Reihe von Fragen und Überlegungen ab, die für zukünftige Erhebungen elementar sind. Zunächst muss kritisch angemerkt werden, dass Protestbefragungen bislang zumeist in relativ homogenen Kontexten eingesetzt wurden, sowie von Demonstrierenden ausgehen, die über Staatsbürger*innenrechte am Demonstrationsort verfügen. Obwohl wir versuchte haben, wie im Folgenden dargelegt, einige Anpassungen vorzunehmen, besteht hier weiterhin Handlungsbedarf.

Die Konstruktion von Protestfragebögen stellt immer eine große Herausforderung dar, umso mehr, wenn in komparativen Projekten eine akkurate Übersetzung der Fragen in mehrere Sprachen erforderlich ist. Bislang wurde in keinem größeren Forschungsprojekt der Protestfragebogen in mehreren Sprachen gleichzeitig eingesetzt, sondern allenfalls für die verschiedenen Länderstudien in die jeweilige Amtssprache übersetzt. Bei unserer Pilotstudie dagegen, haben wir nach Rücksprache mit den Organisator*innen der Demonstration in Hamburg die Handzettel (und den Online-Fragebogen) außer auf Deutsch auch in den Sprachen Französisch, Englisch, Türkisch, Dari und Arabisch angeboten. Nach der Befragung wurden wir von dem Befragungsteam darauf hingewiesen, dass ein ganzer Demonstrationsblock mit eritreischen Teilnehmenden nicht erreicht werden konnte, da kein Fragebogen in Tigrinya vorlag und die Teilnehmenden keiner der anderen Sprachen mächtig waren.

Die Vielsprachigkeit wird bei Teilhabekonflikten ergänzt durch eine ausgeprägte Diversität in Bezug auf soziale und geographische Herkunft. Dadurch akzentuiert sich der grundsätzliche Zielkonflikt zwischen Vergleichbarkeit und Verständlichkeit bzw. Anpassung an die Spezifika des jeweiligen Kontexts. Die etablierten Protestfragebögen orientieren sich angesichts ihrer bisherigen geographischen und thematischen Anwendung in Kontexten europäischer Mehrheitsgesellschaften an einem westlichen Bezugsrahmen und sind daher nur begrenzt verständlich für zu befragende Protestteilnehmende mit anderen Bezügen. Das beginnt bei kulturell spezifischen Konzepten wie „Kirche“ (anstelle von inklusiveren Bezeichnungen wie „religiöse Institutionen“), regional unterschiedlichen Mediensystemen („öffentlich-rechtlich“ etc.), Demokratieverständnissen sowie distinkten Vorstellungen, was als „politisches“ Engagement (versus beispielsweise religiöse Praxis) zu verstehen ist. Darüber hinaus stellt sich bei Menschen mit kürzerer Aufenthaltszeit die Frage nach dem geographischen Bezugsrahmen des Engagements, da sich die gängigen Fragebögen auf Aktivität im jeweiligen Land konzentrieren und transnationale Migrationsbiographien mit diversen Orten der Politisierung und des Engagements nicht berücksichtigen. Wir haben vor diesem Hintergrund einige Fragen umformuliert und ergänzt, was im Gegenzug Einschränkungen in der Vergleichbarkeit mit anderen Protestsurvey mit sich bringt. Darüber hinaus sind zentrale Fragen in etablierten Protestsurveys unberücksichtigt, die für das Verständnis von Teilhabekonflikten essentiell sind. Dazu zählen Fragen der Identität und Zugehörigkeit, von (intersektionaler) Diskriminierungserfahrung, sowie evtl. auch Vorurteile gegenüber anderen marginalisierten Gruppen.

Für Protestbefragungen in sprachlich und kulturell diversen Gesellschaften ergeben sich analog auch spezifische Herausforderung in der Planung und Durchführung. Fragebögen müssen akkurat in verschiedene Sprachen übersetzt und anschließend mit Muttersprachler*innen auf deren semantische Vergleichbarkeit und Verständlichkeit hin überprüft werden. Auch für vermeintlich „technische“ Tests wie die Funktionalität des programmierten Online-Fragebogens, war in unserem Fall ein sechs-sprachiges Team notwendig. Gleiche Anforderungen stellen sich an die Auswahl eines kompetenten vielsprachigen Teams, eine an den Kontext der Diversität angepasste Schulung der Befrager*innen sowie das Einplanen einer längeren Kontaktdauer, wenn zunächst Sprachkenntnisse mit potentiellen Teilnehmenden der Befragung abgeglichen werden müssen.

Trotz einer ersten aufwendigen Anpassung des Instrumentariums an einen diversen Befragungskontext, war das Ergebnis mit Hinblick auf die Repräsentativität der Befragung nicht zufriedenstellend. Wir gehen davon aus, dass sowohl die Methode der Online-Erhebung einerseits als auch Skepsis gegenüber standardisierter Befragung andererseits wichtige Erklärungsfaktoren sind. Besonders auffällig war schließlich, dass nur sehr wenige nicht-deutschsprachigen Handzettel ausgegeben wurden, obwohl es sich um eine äußerst diverse Demonstration handelte. Viele Teilnehmenden bestanden selbst bei geringen Sprachkenntnissen auf einen deutschen Fragebogen. Von den 119 ausgefüllten Fragebögen wurden nur ein einziger von einer Person im Asylverfahren und nur einer von einer Person mit außereuropäischer Staatsbürgerschaft ausgefüllt. Dies könnte – trotz freundlicher Annahme der Handzettel – für starke Vorbehalte gegenüber (online) Befragungen sprechen. Die Rückmeldungen an das Befragungsteam machen deutlich, dass das Format des Online-Fragebogens eine zusätzliche Hürde darstellt. Einige Teilnehmende haben zurückgemeldet, dass sie a) kein Internet haben, bzw. b) Bedenken aufgrund des individuellen Zugangscodes haben, der jedoch notwendig ist, um eine Manipulation der Befragung auszuschließen. Dies spricht dafür, dass schriftliche Fragebögen erfolgsversprechender sind. Weiterhin könnte eine Unkenntnis (und mangelnde Erklärung) der Methode die Bedeutung der individuellen Teilnahme verhindert haben; schließlich ist davon auszugehen, dass die teilweise prekären Lebenssituationen strukturell eine Teilnahme behindern und (nachvollziehbarerweise) Prioritäten anders gelagert sind. Es ist weiterhin zu testen, ob ein längerer Befragungszeitraum in diesem Kontext zu höherem Rücklauf führt. Abgesehen von der auffälligen Nicht-Teilnahme nicht-deutscher Protestierender war auch die Rücklaufquote unter den deutschen Teilnehmenden geringer als bei anderen Befragungen.

Um Potentiale und Herausforderungen von Protestbefragungen weiter zu ergründen plant das DeZIM-Institut in Zusammenarbeit mit dem ipb im Frühjahr 2019 Fokusgruppengespräche mit Akteuren aus der migrantischen Selbst-Organisation und anderen im Themenfeld Aktiven. Dies kann ein Schritt sein, um zukünftig differenziertere Aussagen über Protestereignisse im postmigrantischen Deutschland zu treffen. Proteste sind schließlich inhärenter Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Als Sensoren gesellschaftlicher Konflikte und sozialer Missstände machen sie diese sicht- und bearbeitbar. Von einer sozialwissenschaftlichen Begleitung profitieren demnach nicht nur diejenige die Forderungen im öffentlichen Raum artikulieren, sondern auch die Gesellschaft als Ganze.

Foto:  Umbruch Bildarchiv

 

Weitere Beiträge