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Das produktive Moment der Krise

Platzbesetzungen als Laboratorien der Demokratie

zuerst erschienen in den WZB-Mitteilungen 137 (pdf)

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Wollte man die Finanzkrise der letzten Jahre in einem Bild fassen, protestierende Menschen auf den Plätzen in Athen, Madrid, New York und Frankfurt gehörten untrennbar dazu. Die Versammlungen auf der Puerta del Sol, die Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Polizei am Athener Syntagma-Platz und die Zelte vor der Europäischen Zentralbank sind Repräsentationen der Krise. Sie machen komplexe und abstrakte Vorgänge und die damit verbundenen Konflikte sichtbar: das Primat der Ökonomie, die Entmachtung der Parlamente und die Abstiegsängste der Mittelschicht infolge der Finanzkrise.

Die Bilder der Krisenproteste, die das Jahr 2011 geprägt haben und bis heute anhalten, zeigen gerade im Süden Europas beides: Verzweiflung und Hoffnung. Die Platzbesetzungen sind einerseits Ausdruck der Wut über den Umgang von Regierungen und Parlamenten mit der Finanzkrise. Andererseits entwickeln die Camps und die daraus hervorgehenden Initiativen gerade im Moment der Ohnmacht gegenüber einer als alternativlos dargestellten Politik eine ungeahnte Chance für einen demokratischen Neuanfang. Zwar entwickeln die von der Krise Betroffenen auf den besetzten Plätzen nicht in erster Linie Lösungsansätze für die Finanzkrise, für deren Umsetzung sie Mehrheiten gewinnen wollen. Aber sie entdecken demokratische Formen der Selbstorganisation für sich. Sie machen in den Protestversammlungen Erfahrungen der Selbstbehauptung und der Anerkennung. Und sie eignen sich gemeinsam alternative Formen des Austauschs und der Entscheidungsfindung an.

Für die Menschen, die in Spanien und Griechenland auf die Straße gehen, hat die Finanzkrise eine ohnehin schon prekäre Situation noch zugespitzt. Bereits vor den Ereignissen seit dem Bankencrash 2008 war es für viele Menschen schwer, ein Leben in Würde zu führen. In Griechenland verstanden sich Jugendliche und junge Erwachsene als „Generation 700“, die in prekärer Beschäftigung kaum den gesetzlichen Mindestlohn verdiente. In Spanien forderten ihre Altersgenossen das Recht auf bezahlbare Wohnungen ein. Mit der Krise verschlechterte sich die Situation dramatisch. In beiden Ländern ist die Jugendarbeitslosigkeit mittlerweile auf über 50 Prozent angestiegen (Stand April 2012), in Griechenland droht die öffentliche Versorgung zusammenzubrechen, in Spanien werden viele Familien aus ihren nicht mehr bezahlbaren Häusern und Wohnungen geworfen.

Gerade junge, gut ausgebildete Menschen haben sich wegen der unerträglichen Auswirkungen der Krise in den Protestbewegungen der Empörten engagiert. Wie Befragungen von Demonstrierenden in Spanien nahelegen, sind es nicht die am schlimmsten von der finanzpolitischen Krise Betroffenen, die auf die Straße gehen. Ein großer Teil der indignados (Empörten) sieht die eigene ökonomische Position als relativ privilegiert an. Aber die Aktivisten fühlen sich um das Aufstiegsversprechen betrogen, das bislang mit einer guten Ausbildung einherging, und sie blicken mit großer Unsicherheit in die Zukunft.

Gleichzeitig haben die Protestierenden aber auch die Hoffnung, dass sich durch die Selbstorganisation der Betroffenen und durch die Mobilisierung zu Protesten etwas ändern kann. Diese Hoffnung geht zum einen auf ein erlerntes Repertoire politischer Beteiligung zurück: Gerade gut Ausgebildete verstehen es, ihre Interessen in Protesten zu artikulieren. Sie wissen, wie Proteste organisiert werden und wie man sie nach außen darstellt. Zum anderen haben die Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo und der erfolgreiche Protest gegen das Mubarak-Regime in Ägypten ein Fanal der Hoffnung gesetzt, das auch auf die Bedrängten in liberalen Demokratien ausstrahlte.

Foto: (cc) Weiko via Flickr
Acampada in Valladolid, Spanien, Mai 2011. Foto: (cc) Weiko, via Flickr

Die Aneignung des öffentlichen Raums nach ägyptischem Vorbild ist auch als Wiederaneignung des Politischen zu verstehen. Korruption, Demokratiedefizite und die Herrschaft der Finanzmärkte über die Ausgestaltung von Gemeinschaftsaufgaben sind die stärksten Motive, die die Menschen zur Teilnahme an Protestzügen, Platzbesetzungen und Versammlungen veranlassen. Sie sehen ihre Interessen und Bedürfnisse in der Parteiendemokratie nicht vertreten. No nos representan (sie repräsentieren uns nicht) wurde zu einem Leitsatz der Platzbesetzer. In ihren Protesten kommt nicht nur Wut über die Unfähigkeit der Regierungen und Parlamente zum Ausdruck, das Primat der Ökonomie herauszufordern und den Menschen eine Perspektive zu geben. Die Proteste selbst sind darüber hinaus ein produktiver Weg, mit der Krise der repräsentativen Demokratie umzugehen und die eigene Situation zu bewältigen.

Mit der Besetzung von Plätzen, mit dem Austausch und dem Ausharren dort sind temporäre Räume demokratischen Experimentierens entstanden. Wie auf dem Tahrir-Platz schufen die Empörten in Spanien, Griechenland und Israel eine Infrastruktur, die es erlaubte, die Besetzungen aufrechtzuerhalten und damit den öffentlichen Raum als Wohnraum und Forum des Souveräns neu zu erfinden. Küchen und Bibliotheken, Sanitäts- und Entspannungszelte waren genauso wichtige Bestandteile dieser Infrastruktur wie die Schlafzelte und die tägliche asamblea (Versammlung). Die Bilder der übervollen Plätze, auf denen sich große Menschenmengen mit Handzeichen verständigen, lassen ahnen, welche Ermutigung die Erfahrung einer Gemeinschaft auslöst, die sich trotzig selbst organisiert. Im Gegensatz zu den Camps in Deutschland, in denen nur wenige Dutzend Aktivisten ausharrten, macht die massenhafte Bevölkerung der Plätze den Eindruck einer realen Gegenmacht, für die Beteiligten wie für Außenstehende.

Das Zusammentreffen unter freiem Himmel entsprach dem unmittelbaren – und meist nicht durch politische Organisationen vermittelten – Bedürfnis, dem eigenen Ärger Platz zu machen und der individuellen Betroffenheit Ausdruck zu geben. Die Diskussionen in den Camps lösten sich vom vermeintlichen Sachzwang der Krise und eröffneten damit den Möglichkeitsraum für etwas radikal anderes. Auch wenn ein großer Teil der Protestierenden Wert darauf legt, dass die Bewegung der indignados unpolitisch ist, finden auf den Plätzen – ähnlich wie in Deutschland beim Konflikt um den Stuttgarter Tiefbahnhof – Prozesse der Politisierung statt, die noch lange nachwirken werden. In den Demonstrationen und Versammlungen erfahren die Menschen sich als Subjekte der Politik. In ihren Diskussionen und in ihrer Selbstorganisation üben sie das Denken in Alternativen ein.

Dass sich die Platzbesetzungen dabei verstetigten, immer mehr Menschen anzogen und dass die so eroberten Plätze gegen Räumungsversuche verteidigt wurden, zeigt zweierlei: die Entschlossenheit, sich im öffentlichen Raum zu behaupten, und die weit verbreitete antagonistische Haltung gegenüber den Parteien und ihren Vertretern. Vor allem in Spanien waren die Proteste von einer fast schon obsessiven Ablehnung repräsentativer Politik geprägt. Nicht nur Parteien, sondern auch andere politische Organisationen waren auf vielen Plätzen unerwünscht. Und tatsächlich waren die Proteste am 15. Mai 2011 und danach, die in dem Twitter-Hashtag #15M kondensiert sind, nicht von Gewerkschaften oder sonstigen vorher bestehenden politischen Gruppen angestoßen worden. Im Vergleich zu anderen Demonstrationen ist der Anteil der Protestierenden, die in einer politischen Organisation engagiert sind, signifikant kleiner, der Anteil der über soziale Netzwerke im Internet Mobilisierten größer.

Angesichts der Krise der Repräsentation haben die Empörten Formen des Austauschs und der Selbstorganisation gefunden, die die individuelle Betroffenheit respektieren und gerade nicht auf die Kollektivierung von Interessen abzielen. Sie sind Ausdruck des Rechts und des Bedürfnisses, „sich nicht repräsentieren zu lassen“. Der öffentliche Raum wird angeeignet, um der Aggregation von Inte-ressen die Präsentation von individueller Zugehörigkeit und Betroffenheit gegenüberzustellen. Die Demokratie der Plätze entwickelt sich im Konflikt mit der repräsentativen Demokratie zu einer präfigurativen Politik, also einer Politik, die die angestrebte Gesellschaft im eigenen Handeln vorwegnimmt.

In der Demokratie der Plätze werden Formen von Graswurzeldemokratie eingeübt, die nicht erst mit den Besetzungen erfunden wurden. Vielmehr gehen die asambleas und die in ihnen genutzten Techniken, etwa Handzeichen zur schnellen Rückmeldung, auf eine lange Geschichte der Selbstorganisation in sozialen Bewegungen zurück, deren Ziel die Einbeziehung aller Beteiligten und ein Abbau von Hierarchien war. Von der Frauenbewegung bis zur globalisierungskritischen Bewegung, der unmittelbaren Vorläuferin der Proteste der Empörten, wurden diese Ziele in Kleingruppen, Netzwerken und auf großen Versammlungen verfolgt. Auch gab es bereits in diesen Bewegungen eine explizite und radikale Kritik an der repräsentativen Demokratie.

Aber erst mit den Platzbesetzungen wurden alternative Formen der politischen Artikulation und Organisation ostentativ in den öffentlichen Raum getragen. Mehr noch: Da die Proteste der Empörten nicht – wie viele Demonstrationen vorangegangener Bewegungsgenerationen – von existierenden Organisationen getragen wurden, in denen gemeinsame Positionen erarbeitet und untereinander verhandelt wurden, konnte es keinen anderen Ort als die besetzen Plätze geben, um sich zu verständigen. So wichtig die sozialen Netzwerke im Internet für die Organisation gewesen sein mögen, um eine gemeinsame Wahrnehmung der Situation zu erzeugen, so konnten sie doch das Aufeinandertreffen und den direkten Dialog im öffentlichen Raum nicht ersetzen. Erst hier entstand das Verständnis einer gemeinsamen Anstrengung trotz unterschiedlicher Voraussetzungen und Betroffenheiten.

Dabei sind die Orte der Besetzungen nicht nur ein Symbol der Offenheit. Die Camps im öffentlichen Raum machen es vielmehr für zuvor Unbeteiligte tatsächlich leichter, sich als Empörte zu verstehen. Im Gegensatz zu den Versammlungen sozialer Bewegungen in der Vergangenheit, die in erster Linie zur Verfolgung gemeinsamer Ziele, zum Beispiel der Organisation von Protesten oder des Alltags in besetzten Häusern, geschaffen wurden, gibt es bei den Platzbesetzungen deutlich niedrigere Hürden, sich zu beteiligen. Die Plätze werden nicht nur zur Nutzung einer kleinen Gruppe besetzt, sondern sie stehen jedem Interessierten offen.

Auch wenn die Platzbesetzungen offene Räume der Beteiligung geschaffen haben, muss man davon ausgehen, dass die soziale Situation auch hier Engagement oder Apathie wahrscheinlicher macht. Laut dem European Social Survey von 2010 gab unter den spanischen Befragten mit höherem Bildungsabschluss fast ein Drittel an, sich im Jahr vor der Befragung an Protesten beteiligt zu haben. Unter jenen mit niedrigem Bildungsabschluss war es nur jeder Zehnte. Die Platzbesetzungen werden diese Spaltung nicht grundsätzlich aufheben. Umfragen unter den Teilnehmern zeigen, dass hier wie in anderen Protesten die Ausgebildeten und finanziell besser Gestellten die Szenerie dominieren. Aber die Platzbesetzungen weisen in Richtung egalitärer Beteiligung auf der Straße, indem sie die Erfahrung von Demokratie zu den Menschen gebracht haben.

Literatur:

Anduiza, Eva, Camilo Cristancho und Jose M. Sabucedo: „Mobilization through Online Social Networks: The Political Protest of the Indignados in Spain“. Unveröffentlichtes Manuskript. Barcelona 2012. (pdf)

Kraushaar, Wolfgang: Der Aufruhr der Ausgebildeten. Hamburg: Hamburger Edition 2012

Likki, Tiina: „15M Revisited: A Diverse Movement United for Change. Laboratorio de Alternativas“. Zoom Político. Madrid 2012. (pdf)

Maeckelbergh, Marianne: The Will of the Many. How the Alterglobalization Movement is Changing the Face of Democracy. London: Pluto Books 2009

Melucci, Alberto und Leonardo Avritzer: „Complexity, Cultural Pluralism and Democracy. Collective Action in the Public Space“. In: Social Science Information, Vol. 39, No. 4, S. 507-527 (pdf)

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